von Isolde Hilt
„In früheren Zeiten war die Redekunst ein prestigeträchtiges Studienfach, welches lehrte, gewinnend zu sein, zu überzeugen und einzubeziehen … Heutzutage werden die großen Reden immer weniger. Selbst Politiker kommunizieren immer mehr über Tweets, Facebook-Posts, Blogs, das Sammeln von Likes und Millionen von Stimmen“, stellt Carlo Batà in „Große Reden des 20. und 21. Jahrhunderts“, in seiner Einführung fest.
Der Herausgeber dieses Buchs macht zugleich auf eine Entwicklung aufmerksam, die nachdenklich stimmt, wenn nicht gar alarmiert. Wie groß ist die Gefahr, immer mehr den Bezug zu verlieren zu dem, wofür man einmal angetreten ist? Insbesondere in einer Position, in der man in der Verantwortung für andere steht wie beispielsweise in der Politik? In die Tiefe zu gehen, Dinge, die sich abspielen, tatsächlich zu erfassen, zu ergründen und zu verstehen? Die Herausforderungen sind weltweit so drängend geworden, dass wir uns neu besinnen müssen, worum es wirklich geht und dass eigentlich nicht die Zeit ist, sich um sich selbst zu drehen.
Charles de Gaulle, Eleanor Roosevelt, Thomas Sankara, Elisabeth II., Stephen Hawking, Malala Yousafzai, Anita Roddick, Malcolm X … Insgesamt vereint das Buch „Große Reden des 20. und 21. Jahrhunderts“ 38 zumeist bekannte Namen, die in der Zeit von 1945 bis heute von sich reden machten. Menschen aus Politik, Wissenschaft, Lehre, der Zivilbevölkerung, geistliche Oberhäupter, die sich in den Dienst von etwas stellten, das größer ist als sie. Von dem sie sich erhoff(t)en, dass es die Welt besser macht. Unter ihnen Persönlichkeiten, die eine Gegebenheit, einen Zustand in der Gesellschaft so präzise analysierten und damit Missstände offenlegten, die so nicht bekannt werden und sich verbreiten sollten. Die dafür ins Gefängnis gingen wie z. B. Nelson Mandela oder mundtot gemacht wurden wie Thomas Sankara, Präsident von Burkina Faso von 1983 bis 1987, bis er im Alter von 37 Jahren ermordet wurde.
„Ich spreche für die Millionen von Menschen, die in Ghettos leben, weil sie schwarzhäutig sind oder anderen Kulturen angehören und einen Status haben, der dem eines Tieres kaum überlegen ist. (…) Ich spreche für Frauen auf der ganzen Welt, die unter einem Ausbeutungssystem leiden, das von Männern auferlegt wird. (…) Ich spreche im Namen aller Mütter unserer entrechteten Länder, die ihre Kinder an Malaria und Durchfall sterben sehen, ohne zu wissen, dass es einfache Mittel gibt, sie zu retten, die die Wissenschaft der multinationalen Konzerne ihnen nicht bietet. …
Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York am 4. Oktober 1984
Große Reden: Mut ist keine Frage des Alters, Geschlechts oder der Herkunft
Nicht alle Stimmen in dem Buch werden auf Gegenliebe stoßen. Das Schöne an dieser Zusammenstellung aber ist, dass man sich trotzdem mit der einen oder anderen Persönlichkeit auseinandersetzt, weil man ergründen möchte, warum ausgerechnet er oder sie mit aufgeführt ist. Zu jeder Person ist kurz der zeitliche Kontext skizziert, der nachvollziehbar macht, wie es zu einer Rede kam, die weltweit aufhorchen ließ. Eine knapp gefasste Vita hilft für eine erste Zuordnung. Neben der Rede sind Anlass, Ort und Datum vermerkt.
„Liebe Schwestern und Brüder, wir erkennen die Bedeutung von Licht, wenn wir Dunkelheit sehen. Wir erkennen die Bedeutung unserer Stimme, wenn wir zum Schweigen gebracht werden. Und genau so haben wir in Swad in Nordpakistan die Bedeutung von Stiften und Büchern erkannt, als wir die Waffen sahen.
Die weise Stimme, die sprach: „Der Stift ist mächtiger als das Schwert“, hatte Recht. Die Extremisten hatten und haben Angst vor Büchern und Stiften. Die Macht der Bildung erschreckt sie. Sie haben Angst vor Frauen. Die Macht der Stimme der Frauen erschreckt sie. …
Malala Yousafzai, Rede vor der Jugendversammlung der Vereinten Nationen in New York am 12. Juli 2013
Malala Yousafzai ist 15 Jahre alt, als Taliban den Schulbus aufhalten, in dem sie sitzt. Drei Schüsse werden auf sie abgefeuert, die auch zwei Schulkameradinnen verletzen. Doch sie überlebt und fordert heute mehr denn je für alle Kinder weltweit Bildung und Chancengleicheit – unabhängig von Rasse, Kaste, Kultur, Herkunftsland. Das Attentat hat die junge Pakistanin nicht zum Verstummen gebracht: „Sie haben gedacht, dass die Kugeln uns zum Schweigen bringen würden. Aber sie haben sich geirrt. … Was sich geändert hat, ist: Schwäche, Angst und Hoffnungslosigkeit sind verschwunden. Stärke, Kraft und Mut sind geboren.“
Eine Erkenntnis aus „Große Reden“: Die Welt hielt auch früher schon den Atem an. Ein Vergleich, was schlimmer war oder ist, führt nicht weiter. Wir können nur die Herausforderungen heute und jetzt lösen.
Die USA 1963 … 100 Jahre zuvor hatte Präsident Abraham Lincoln mit der sogenannten Emanzipationsproklamation die Sklaverei abgeschafft. Die afroamerikanische Bevölkerung wird jedoch durch die Rassentrennung, die sie von so vielen Bereichen in der Gesellschaft ausschließt, weiter tief gedemütigt und als Menschen zweiter Klasse behandelt. Am 28. August hören Millionen von Menschen, auch dank der Übertragung im Fernsehen, eine Rede, die als eine der beeindruckendsten in die Weltgeschichte eingeht – Martin Luther King jr. mit „I have a dream“:
„Es ist jetzt die Zeit, die Versprechen der Demokratie zu verwirklichen. Es ist jetzt die Zeit, sich aus dem dunklen und trostlosen Tal der Rassentrennung zum sonnenbestrahlten Pfad der Rassengerechtigkeit zu erheben. Es ist jetzt die Zeit, unsere Nation von den Treibsänden der rassistischen Ungerechtigkeit zum festen Felsen der Gemeinschaft aller Menschen zu erhöhen. Es ist jetzt die Zeit, die Gerechtigkeit zu einer Realität für alle Kinder Gottes zu machen.“
Rede in Washington beim Marsch für Arbeit und Frieden in der Meile vom Washington Museum bis zum Lincoln Memorial am 28. August 1963
1964 erhält der amerikanische Bürgerrechtler, der sich stets für den gewaltfreien Kampf einsetzte, den Friedensnobelpreis. 1968 wird Martin Luther King jr. am 4. April in Memphis, Tennessee, ermordet. Nur gut zwei Monate später, am 22. November, fällt Präsident John F. Kennedy in Dallas einem Attentat zum Opfer. Auch er ist in dem Buch mit seiner Rede zum Antritt der Präsidentschaft vertreten.
Große Reden: Ein Buch, das dazu einlädt, sich mit unserer Welt-Geschichte auseinanderzusetzen und mit der Frage, wie wir endlich zu einer friedlichen Ko-Existenz gelangen können
„Große Reden des 20. und 21. Jahrhunderts“ kommt zur richtigen Zeit. Eine Zeit, in der sich zunehmend mehr Menschen fragen, wie das auf unserem Planeten überhaupt noch weitergehen kann. Ob wir es als Menschheit jemals schaffen, gleichberechtigt, in Frieden, mit gleichen Chancen für jede und jeden, zu leben – mit Zugang zu allen wichtigen Ressourcen wie Nahrung, Energie, Bildung, einem intakten Umfeld? Gibt es einen gemeinsamen Weg, um Hass, Gewalt, Diskriminierung, Ausbeutung, Armut, Hunger zu überwinden und zu erkennen, dass wir trotz unserer Unterschiedlichkeit die Herausforderungen unserer Zeit nur auf Augenhöhe werden lösen können?
Das Buch spiegelt nicht alle Themen wider, die uns heute fordern. Dr. Jane Goodall etwa, die selbst in hohem Alter nicht müde wird, sich für die Umwelt und eine lebenswerte Zukunft einzusetzen, wäre eine weitere wichtige Impulsgeberin. Kinder und Jugendliche haben uns viel zu sagen und wollen endlich ernstgenommen werden. Vielleicht ist ja schon an eine Fortsetzung gedacht, die auch mehr Frauen und trans- oder intergeschlechtliche Menschen mit einbezieht.
„Große Reden des 20. und 21. Jahrhunderts“ tröstet auf überraschende Weise, weil es die Möglichkeit bietet, unser menschliches Dasein wieder in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Es macht Mut, niemals aufzugeben, auch nicht im Kleinen. Menschen, die alles gegeben haben, selbst ihr Leben, haben zu wichtigen Veränderungen in Gesellschaften beigetragen. Das Buch zeigt insbesondere eines auf: Wer seinem inneren Kompass folgt und es versteht, sich nicht von all dem, was täglich auf einen einprasselt, kirre machen zu lassen, ist stark und kann anderen eine Hilfe oder sogar Vorbild sein. Oder, um anders abzuschließen: Haben wir eine Alternative, wenn wir über- und weiterleben wollen?
Große Reden des 20. und 21. Jahrhunderts
Das Buch ist 2024 im italienischen Verlag whitestar erschienen und liegt auch in deutscher Sprache auf.
Mehr zu whitestar: https://www.whitestar.it/
Kontakt in Deutschland: https://www.dorlingkindersley.de/
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