Interview: Isolde Hilt
Manchmal ist das Leben ganz schön hartnäckig mit seinen Zeichen und Hinweisen. Wenn diese nicht helfen, stellt es dir ein mächtiges Stoppschild in den Weg: „So nicht mehr!“ Jasmin Lotter kennt das aus eigenem Erleben. Sie hatte alles, worauf viele hinarbeiten: eine intakte Partnerschaft, gesunde Kinder, ein Reihenhaus mit Pool in Strandnähe und einen Job, der sie erfüllte. Doch innerlich hatte sie etwas Entscheidendes vergessen, wie sie sich heute eingesteht: „Ich habe nicht auf mich selbst geachtet, bin ständig über meine Grenzen gegangen, bis ich vor acht Jahren in einem Burnout landete.“
Die Wahlportugiesin fing beruflich noch einmal von vorne an. Mit ihrem Business „Happiemotion“ spürt sie auf, was es alles gibt, um besser in Balance und in seiner Kraft zu bleiben. Unter anderem erweist sich EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), als sehr hilfreich. Eine psychotherapeutische Methode, die Dr. Francine Shapiro aus den USA entwickelt hat, um belastende Erinnerungen wie Folgen von Traumata besser zu verarbeiten.
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Liebe Jasmin, du bist konstant auf Spurensuche, was es alles gibt, damit wir uns als Mensch gut oder wieder gut fühlen und weniger Gefahr laufen, uns bis zur Erschöpfung zu verausgaben …
Ja. Wie sagt Thich Nhat Hanh so schön? „Um mit uns und der Welt in Frieden zu leben, müssen wir täglich für Körper, Geist und Seele sorgen.“ Ich habe das lange nicht verstanden und mich – wie so viele von uns – vor allem darum bemüht, den Ansprüchen und Erwartungen anderer gerecht zu werden.
Mein Burnout war ein Wendepunkt. Ich begann, mich intensiv mit Themen wie Achtsamkeit, Positive Psychologie und Resilienz zu beschäftigen. Ich wollte verstehen, wie wir als Menschen auch in herausfordernden Lebenssituationen in Balance bleiben können. Denn nur dann können wir unsere Stärken nutzen, andere unterstützen und uns für eine bessere Zukunft einsetzen.
Manchmal zwingen uns Umstände in unserem Leben, genauer auf das zu gucken, was uns beeinträchtigt, ins Hamsterrad steigen lässt, uns ängstigt. Du bist da auf ein interessantes Hilfe-Tool gestoßen, eine Methode, die noch relativ jung ist: EMDR. Was ist das? Klingt fast wie ein DNA-Code …
Ich wünschte, diese tolle Methode hätte einen weniger kryptischen Namen. EMDR steht für „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“, für die „Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen“.
Dr. Francine Shapiro hat diese Methode ursprünglich entwickelt, um Menschen mit traumatischen Erlebnissen zu helfen. Dabei geht es darum, durch gezielte Augenbewegungen oder andere beidseitige Stimulationen belastende Erinnerungen emotional besser zu verarbeiten.
Dahinter steht die Theorie, dass unser Gehirn traumatische Erinnerungen manchmal nicht vollständig verarbeitet und diese oft als unverdaute „Fremdkörper“ in unserem Gedächtnis verbleiben. Mit Hilfe von EMDR können diese Erinnerungen so bearbeitet werden, dass das Gehirn sie als „normale“ Erinnerungen speichern und in einen gesunden Kontext integrieren kann. Dies kann enorm entlasten und helfen, sich von belastenden emotionalen Themen zu befreien.
Hast du EMDR bei dir selbst schon getestet?
Ja, ich habe EMDR nach dem Burnout durch meine Psychologin kennengelernt. Mir wurde damals klar, dass der Burnout nicht nur durch den hohen Stress im Job verursacht worden war, sondern auch durch tief verwurzelte Erfahrungen und Glaubenssätze aus meiner Kindheit und Jugend. Im Beruf versuchte ich immer noch, das „liebe Binsle“ von früher zu sein. Das führte zu all meinen ungesunden Verhaltensmustern.
EMDR half mir, diese Muster zu erkennen und zu transformieren. Die intensive Auseinandersetzung mit meiner eigenen Geschichte hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich seinen inneren Prozessen zu widmen, damit man sich wirklich verändern kann.
Du arbeitest seit einiger Zeit mit dieser Methode. Welche Erfahrungen hast du bisher damit gemacht?
Ich arbeite so gerne mit EMDR, weil man damit oft sehr schnell an die Wurzel des Problems kommt. Meistens wenden sich Klient*innen mit einem aktuellen Problem an mich. Vielleicht sagt der Partner, Chef oder die Mutter einen Satz und der oder die Klient*in reagiert emotional extrem heftig, ohne genau zu wissen, warum.
Durch EMDR stellen wir fest, dass solche intensiven Reaktionen häufig etwas mit unverarbeiteten Erlebnissen aus der Vergangenheit zu tun haben. Diese Gefühle sind oft tief verwurzelt und werden durch die aktuelle Situation ausgelöst, ohne dass es den Klient*innen bewusst ist.
Wie äußert sich das in deiner Arbeit?
Meine Erfahrung zeigt, dass der EMDR-Prozess bei jedem Menschen anders verläuft. Manche sehen Bilder oder Filme vor ihrem geistigen Auge. Andere nehmen starke körperliche Empfindungen wahr, wieder andere erleben vor allem gedankliche Prozesse. Im Kern geht es aber oft um ähnliche Themen: das Gefühl, nicht gut genug, nicht wertvoll, nicht wirksam, nicht liebenswert zu sein.
Als Behandelnde*r die Finger vor dem Gesicht der Klientin, des Klienten hin und herbewegen – das wirkt erst einmal ein bisschen wie Hokuspokus. Wozu dient das? Was passiert da im Gehirn?
Eine berechtigte Frage! Die genaue Wirkungsweise von EMDR ist noch nicht vollständig erforscht. Bisher geht man davon aus, dass die bilaterale Stimulation dazu beiträgt, die Gehirnhälften zu synchronisieren. Dadurch wird der Prozess des Verarbeitens und Neuordnens von Erinnerungsfragmenten im Gehirn unterstützt.
Man könnte es sich vorstellen wie einen überfüllten Schreibtisch, auf dem Papiere und Notizen wild durcheinanderliegen. EMDR hilft dabei, diese Papiere zu sortieren, zu ordnen und an ihren richtigen Platz zu legen. So wird der Schreibtisch aufgeräumt und die emotionale Belastung, die mit bestimmten Erinnerungen verbunden ist, kann deutlich reduziert werden.
Was gehört zur Anwendung von EMDR sonst noch, um wirksam zu helfen?
Viele Menschen denken, dass man direkt mit der bilateralen Stimulation beginnen kann. Damit EMDR aber möglichst wirksam ist, ist eine gute stabilisierende Vorarbeit hilfreich. Der Prozess besteht aus acht strukturierten Schritten, die Dr. Francine Shapiro entwickelt hat.
Man beginnt mit der Analyse der Lebensereignisse, um ein klares Ziel festzulegen. Danach wird die Klientin, der Klient auf die Methode vorbereitet und lernt die Stabilisierungstechniken kennen. Im nächsten Schritt fokussiert man sich auf eine spezifische belastende Erinnerung. Mit bilateraler Stimulation wird die emotionale Belastung schrittweise reduziert, während eine positive Überzeugung gestärkt und verankert wird. Abschließend überprüft man die Körperempfindungen, stabilisiert die Sitzung und sichert den Fortschritt in späteren Terminen ab.
Dieses strukturierte Vorgehen stellt sicher, dass alle, die EMDR anwenden, auch richtig einsetzen.
Die Wirksamkeit von EMDR ist auch wissenschaftlich nachgewiesen, oder? Gibt es dazu Zahlen?
Ja, die Wirksamkeit von EMDR ist wissenschaftlich gut belegt. Bisherige Studien beziehen sich dabei hauptsächlich auf den Einsatz von EMDR bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS).
Etwa 70 bis 80 Prozent der Klient*innen berichten, dass ihre posttraumatischen Belastungsstörungen deutlich zurückgegangen sind. Verschiedene Studien belegen, dass EMDR bei der Behandlung von Traumata vergleichbar oder sogar wirksamer ist als andere Therapieformen wie z. B. die kognitive Verhaltenstherapie. Viele Klient*innen erleben bereits nach wenigen Sitzungen eine deutliche Besserung. Studien zeigen, dass bei etwa 60 bis 70 Prozent der PTBS-Patient*innen innerhalb von 6 bis 12 Sitzungen Symptome erheblich verringert werden konnten. Dies zeigt die Wirksamkeit von EMDR in der Traumabehandlung.
Wäre diese Methode auch etwas für den Coaching-Bereich?
Im Coaching-Bereich wird EMDR noch nicht so lange eingesetzt. Daher gibt es meines Wissens auch noch keine aussagekräftigen Studien zur Wirksamkeit von EMDR im Coaching-Kontext. Erste Erfahrungen und das wachsende Interesse deuten jedoch auf ein vielversprechendes Potenzial hin.
Bei welchen Anliegen, Problemen kann EMDR gut helfen?
Im therapeutischen Bereich bei posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), Angststörungen, Phobien und Depressionen. Im Coaching-Bereich – meinem Tätigkeitsfeld –bei Selbstwertproblemen, Stressbewältigung, alltägliche Ängsten und Blockaden, Vergangenheitsthemen, die das aktuelle Verhalten beeinflussen, sowie bei Veränderungsprozessen und persönlicher Weiterentwicklung.
Wo liegen die Grenzen? Wann sollte man sich besser anderswo Hilfe suchen?
Auch EMDR ist trotz positiver Erfahrungen und Studienergebnisse kein Allheilmittel.
Bei psychotischen Erkrankungen oder schweren Persönlichkeitsstörungen ist oft eine umfassendere medizinische Behandlung notwendig. Auch bei akuten Krisen oder Suizidgefährdung ist eine sofortige Krisenintervention oder eine andere Form der Notfallbehandlung notwendig.
Für die Anwendung von EMDR ist emotionale Stabilität wichtig. Deshalb achten wir als Anwender*innen besonders darauf, dass der zweite Schritt des achtstufigen Verfahrens sorgfältig durchgeführt wird.
Mit wie vielen Sitzungen muss man rechnen?
Das ist nicht leicht zu sagen … Eine einzige Sitzung reicht in der Regel nicht aus, um nachhaltige Veränderungen zu erreichen. Die Anzahl der benötigten Sitzungen hängt davon ab, wie klar das Thema zu Beginn definiert ist, wie komplex es ist und wie schnell die individuelle Verarbeitung voranschreitet. Die meisten Klient*innen benötigen drei bis fünf oder mehr Sitzungen.
Hast du noch ein Beispiel aus deiner Praxis?
Tanja kam Anfang des Jahres zu mir, weil sie sich in beruflichen und auch privaten Situationen immer wieder ohnmächtig und handlungsunfähig fühlte. Schnell kristallisierte sich heraus, dass sie ein für sie sehr belastendes Kindheitserlebnis nicht richtig verarbeitet hatte. Wie sie selbst schreibt, hat ihr die Veränderung durch EMDR eine „wesentlich höhere Lebensqualität geschenkt, indem sie nun auf Stresssituationen nicht mehr mit Hilflosigkeit, sondern zunehmend mit Stärke und innerer Gelassenheit reagiert“.
Eva wünschte sich, freier kommunizieren und sich mehr zeigen zu können. In sozialen Situationen mit mehreren Personen fiel es ihr schwer, das Wort zu ergreifen, ohne von Nervosität überwältigt zu werden. Durch die EMDR-Sitzungen haben wir den Ursprung ihrer Ängste gefunden. Eva unternimmt nun erste kleine Schritte, um sich selbstbewusster auszudrücken.
Noch etwas, das dir wichtig ist, dir am Herzen liegt?
Ja … Ich möchte jeden ermutigen, EMDR auszuprobieren. Es hat mir unglaublich geholfen, viele tiefsitzende Themen zu lösen. Besonders in der Beziehung zu meiner Mutter fand ich durch EMDR viel Frieden. Ich bin ruhiger geworden. Mein Leben hat sich nachhaltig zum Positiven hin verändert. Das wünsche ich auch anderen Menschen. Ich hoffe sehr, dass zukünftige Forschung dazu beiträgt, die Anwendung von EMDR auch außerhalb von Psychotherapie weiter zu fördern.
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Weitere Infos zu EMDR
Führendes Ausbildungsinstitut in Deutschland:
Informationen zu Francine Shapiro, Ph.D.:
Francine Shapiro, Ph.D. – EMDR Institute – EYE MOVEMENT DESENSITIZATION AND REPROCESSING THERAPY
Bei Happiemotion:
Belastendes loslassen mit EMDR – Kurse, Workshops und Seminare | Happiemotion
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