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Familiengeschichte:

In Archiven forschen

Familiengeschichte im Zweiten Weltkrieg ist oft ein blinder Fleck. Nachforschungen in Archiven können helfen, Licht ins Dunkel zu bringen.

Ein Beitrag zu UN-Ziel:

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von Gerda Stauner

Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz fand vor fast genau 80 Jahren statt. Und auch das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich bald zum 80. Mal. Leider gibt es mittlerweile nur noch wenige Zeitzeugen, die diese schreckliche Zeit selbst erlebt haben. Und bald wird niemand mehr da sein, der darüber berichten kann, wie es damals wirklich war. Für viele, gerade jüngere Menschen, ist die Zeit der NS-Diktatur weit weg und spielt im alltäglichen Leben keine Rolle mehr. Laut einer Umfrage der Jewish Claims Conference gaben z. B. circa 40 Prozent der 18- bis 29-Jährigen an, nicht gewusst zu haben, dass etwa 6 Millionen Jüdinnen und Juden während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet worden sind.

Noch weniger wissen vermutlich, welche Rolle ihre eigenen Vorfahren, ihre Groß- oder Urgroßeltern, während dieser Schreckensherrschaft eingenommen haben. Dabei ist es im digitalen Zeitalter relativ einfach geworden, diesbezüglich Nachforschungen anzustellen und über diverse Archive mehr über die eigene Familiengeschichte in Erfahrung zu bringen.

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In der Mitte des Fotos sind die Großeltern von Gerda Stauner zu sehen. Das Bild wurde Anfang der 1930er Jahre aufgenommen.

Mein Interesse an meiner Familiengeschichte wurde relativ früh durch Erzählungen meiner Großmutter geweckt. Schon in meiner Kindheit sprach sie oft vom Krieg. Sie berichtete von den Entbehrungen und Einschränkungen im alltäglichen Leben, vom Einmarsch der Amerikaner und von meinem Großvater, dessen Verbleib nach Kriegsende bis heute nicht geklärt werden konnte. Sein letztes Lebenszeichen kam aus Polen, wo er für die Wehrmacht kämpfte. Es war ein handgeschriebener Brief, der meine Großmutter im Januar 1945 erreichte. Danach verliert sich seine Spur, er galt jahrelang als vermisst. Am 23. August 1958 ließ ihn seine Ehefrau für tot erklären, nachdem die letzten Kriegsgefangenen aus Russland heimgekehrt waren und es noch immer kein Lebenszeichen von ihm gab.

 

Interesse an Familiengeschichte geweckt

Das waren die spärlichen Fakten, die in der Familie über meinen Großvater bekannt waren. Außerdem hörte ich von meinem Vater, meinen Tanten und meinem Onkel immer wieder, dass mein Opa relativ früh in die NSDAP eingetreten sei, die Partei aber nach wenigen Jahren auch wieder verlassen hätte. Ich wunderte mich zwar darüber, wie ein Parteiaustritt zu dieser Zeit möglich gewesen sein konnte, hinterfragte es jedoch nicht weiter. Irgendwann starb meine Großmutter…

Ich studierte, machte mich selbstständig, gründete eine Familie, und das Schicksal meines Opas trat in den Hintergrund. Vor etwa zehn Jahren erinnerte ich mich wieder an all das, was meine Großmutter mir früher erzählt hatte. Plötzlich wollte ich mehr wissen und begann zu recherchieren.

 

Nachforschungen über das Rote Kreuz

Da es in meiner Familie keine schriftlichen Unterlagen oder Dokumente aus dieser Zeit gab, die mir hätten weiterhelfen können, stellte ich einen Suchauftrag beim Suchdienst des Roten Kreuzes. Diese im Oktober 1945 gegründete Institution sollte nach dem Zweiten Weltkrieg helfen, Vermisste zu finden und das Schicksal der vielen Opfer zu klären. Auch meine Oma hatte gleich nach dem Krieg eine Suchanfrage gestellt – erfolglos. Meine Hoffnung, dass sich mit der Öffnung der russischen Archive nach 1990 neue Erkenntnisse über den Verbleib meines Großvaters ergeben könnten, wurde leider enttäuscht. Immerhin erfuhr ich über den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, dass der Name meines Opas in einem Gedenknamenbuch im Soldatenfriedhof in Przemysl in Polen aufgeführt ist. Obwohl die Kriegsgräberfürsorge immer noch nach Kriegstoten sucht und allein im Jahr 2022 ca. 3.000 Soldaten in Polen geborgen und umgebettet hat, blieb das Schicksal meines Großvaters weiterhin im Dunkeln.

 

Bundesarchiv weitere Anlaufstelle

Doch ich wollte noch nicht aufgeben und wendete mich ans Bundesarchiv. Mit Hilfe eines schriftlichen Benutzungsantrags kann man dort personenbezogene Informationen über Wehrmachtsangehörige einholen. Hier hatte ich etwas mehr Glück. Im Archiv waren noch viele Dokumente vorhanden, die z. B. zeigten, wo mein Großvater für die Wehrmacht im Einsatz war, wohin er versetzt wurde und welche militärischen Ausbildungen er durchlaufen hatte. Doch leider endete auch hier seine Spur sehr abrupt – in Polen im Januar 1945.

Nun hatte mich das Recherchefieber gepackt und ich wollte mehr über meine Familiengeschichte wissen. Ich wendete mich an die Arolsen Archives, das weltweit größte Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Suchmaske ist bequem online zu bedienen und nur besonders geschützte Daten müssen mit einer Begründung, wieso man an den Daten interessiert ist, schriftlich angefordert werden. Hier fand ich heraus, dass ein Cousin meines Opas, mit dem er zusammen aufgewachsen war, Mitte der 1930er Jahre in die Französische Fremdenlegion eingetreten war und von Deutschen Truppen in Afrika gefangen genommen wurde. Im Sommer 1942 war er für kurze Zeit im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Dann kämpfte er für die Wehrmacht, wurde von den Engländern gefangen genommen und kam in ein Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Nottingham. Über meinen Großvater fand ich allerdings wieder nichts heraus.

 

Staatsarchive können helfen

Zu guter Letzt schrieb ich an das Bayerische Staatsarchiv. Und hier gab es tatsächlich noch Akten über meinen Großvater, die belegen, was mein Vater über den Parteiaustritt erzählt hatte. Mein Opa wurde bereits im November 1931 Mitglied der NSDAP und gründete kurz darauf eine Ortsgruppe in seinem Heimatdorf. 1933 wurde er dann sogar in den Bezirkstag gewählt, legte sein Amt aber keine sechs Monate später nieder. Wie in seinem Rücktrittschreiben zu lesen ist, hat ihn eine extrem abwertende Aussage des Bezirkstagsvorsitzenden über den Bauernstand dazu gebracht, seine politische Laufbahn zu beenden.

Doch sein Rücktritt blieb nicht folgenlos. 1935 kam es zu einer Strafanzeige, weil sein kleiner Handwerksbetrieb angeblich nicht in die Handwerksrolle der Handwerkskammer eingetragen war. Doch mein Großvater gab nicht klein bei und wollte sich vom Regime auch nichts gefallen lassen. Er legte Einspruch gegen den Strafbefehl ein, zeigte die entsprechenden Bescheinigungen vor und gewann. Dem Schreiben der Handwerkskammer ans Gericht ist zu entnehmen, dass sie meinen Opa nur widerwillig gewähren ließen und den Strafantrag zähneknirschend zurückzogen. Kurz darauf trat mein Großvater aus der NSDAP aus.

 

Familiengeschichte erkunden

1942 wurde mein Großvater dann zum Kriegsdienst eingezogen. Ein Heimaturlaub an Weihnachten 1944 besiegelte wohl sein Schicksal. Denn genau in dieser Zeit gerieten seine Kammeraden in den Niederlanden in Kriegsgefangenschaft. Fast alle seine Freunde überlebten. Nur mein Großvater, der nun nicht mehr zurück zu seiner Einheit im Westen konnte, wurde nach Osten geschickt. Sein letztes Lebenszeichen war ein Brief an seine Frau. Ab Januar 1945 verliert sich jede Spur. Meiner Oma, meinem Vater, meinen Tanten und meinem Onkel blieb eine lebenslange Ungewissheit. Stets begleitete sie die Frage, wie und wo er, ihr Ehemann und Vater, wohl zu Tode kam.

Und diese Frage beschäftigte irgendwann auch mich. In den letzten zehn Jahren habe ich immer wieder an verschiedene Archive geschrieben, habe gesucht und geforscht. Immer in der Hoffnung, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Und obwohl sich dieses Rätsel vielleicht nie aufklären wird, habe ich dennoch eine Menge gelernt. Denn zwischen den Zeilen kann man viel aus den Akten herauslesen. Der Fanatismus mancher Parteigenossen, mit denen mein Großvater zu tun hatte, ähnelt erschreckend den Parolen einer antidemokratischen Partei, die gerade jetzt wieder viel Zulauf erhält. Durch die Recherche habe ich ein Gefühl dafür bekommen, wie das menschenverachtende System der Nationalsozialisten gearbeitet hat, wie Menschen unter Druck gesetzt wurden und wie wenig ein Leben wirklich gezählt hat.

Vielleicht kostet es am Anfang Überwindung, sich seiner eigenen Familiengeschichte zu stellen. Aber sich zu trauen, genau hinzusehen und das Familienerbe anzunehmen, ist die Mühe wert. Denn unabhängig davon, was die eigenen Groß- oder Urgroßeltern während der NS-Zeit getan oder unterlassen haben: Wir sind nicht dafür verantwortlich. Dass sich so ein perfides System nicht noch einmal in Deutschland etablieren kann, das liegt jedoch sehr wohl in unserer Verantwortung.

Hier findet ihr die Archive und Suchdienste, die bei Nachforschungen zur Familiengeschichte helfen können:

https://www.drk-suchdienst.de/

https://www.volksbund.de/

https://www.bundesarchiv.de/

https://arolsen-archives.org/

 

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