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Mari & Anne:

„Inklusion ist kein Ponyhof“

Das junge Familienunternehmen Mari & Anne versteht etwas von natürlicher Kosmetik und Inklusion. Im Interview erzählt Gründerin Sabine Lewandowski mehr über das besondere Familienprojekt.

Ein Beitrag zu UN-Ziel:

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Interview: Kristin Frauenhoffer

Familiensache: Mutter Marianne mit ihren Töchtern Sabine (links) und Marina. Gemeinsam haben sie Mari & Anne gegründet.

2020 gründete Sabine Lewandowski gemeinsam mit ihrer Mutter Marianne und ihrer Schwester Marina die Kosmetikfirma „Mari & Anne“. Was keiner ahnen konnte, war, dass kurz danach eine weltweite Pandemie ausbrechen und jeglicher Handel unmöglich werden würde. Doch die Familie blieb flexibel und baute kurzerhand einen Onlineshop auf. Dank Social Media ist das Unternehmen bis heute stark am Wachsen. Was die Marke so sympathisch macht, sind die drei Gründerinnen und ihre Geschichte. Denn Marina hat das Down-Syndrom, und folglich spielt das Thema Inklusion bei Mari & Anne eine wichtige Rolle. Im Interview hat uns Sabine auf die Reise von Mari & Anne mitgenommen.

 

Wie kamt ihr auf die Idee, mit Mari & Anne eure eigene Kosmetikfirma zu gründen?

Mari & Anne ist eine versteckte Hommage an meine Mutter, Marianne Lewandowski, die hinter unseren Rezepturen und Produkten steht. In den Neunziger Jahren hat sie alleine in ihrer Seifenküche angefangen, die ersten Salben und Seifen auf Naturbasis herzustellen. Ihre Motivation war meine Hauterkrankung, bekannt unter Stewardessenkrankheit oder auch periorale Dermatitis. Diese Hautkrankheit entsteht durch eine Überpflegung der Haut mit zu vielen unterschiedlichen Hautpflegeprodukten. In meinen Zwanzigern habe ich gerne immer die neuesten Kosmetika und Pflegeprodukte verwendet und vor allem auch nicht auf die Inhaltsstoffe geachtet. Das war am Ende für meine Hautbarriere zu viel und mit einer optisch unschönen Reaktion verbunden.

Und mit ihren selbst hergestellten Produkten hat sie dir geholfen, die Hautkrankheit loszuwerden?

Genau. Sie hat dann über mehrere Jahre so viel wertvolle Erfahrung in diesem Bereich gesammelt, einige Rezepturen entwickelt und Produkte auf Märkten in Franken verkauft. Ihrem Wissen und ihrer Erfahrung fehlte nur noch ein Konzept mit einem durchdachten Design und der Erzählung unserer Geschichte. Alles Dinge, die ich in meinem Studium lernen durfte. So konnte ich sie in diesem Punkt ergänzen und die Idee, ein gemeinsames Unternehmen zu gründen, nahm Form an.

Wie steht Mari & Anne heute da?

Mittlerweile haben wir einen tollen Kundenstamm in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wir verkaufen unsere Produkte überwiegend über unseren Onlineshop und arbeiten mit ausgewählten Händler*innen zusammen. Durch unseren professionellen Online-Auftritt werden wir immer wieder als große Marke wahrgenommen. Einerseits ist das ein großartiges Kompliment, auf der anderen Seite können wir immer nur das investieren, was wir umsetzen. Wir sind auf regelmäßige Bestellungen und Neukundinnen und -kunden angewiesen. Die größte Herausforderung, vor der wir aktuell stehen, ist es, stabilen und wachsenden Umsatz sowie ein Kernteam aufzubauen, das unsere junge Marke festigt und weiter voranbringt.

Ihr seid ein inklusives Unternehmen, weil Marina, deine Schwester und Mitgründerin, das Down-Syndrom hat. Wie genau setzt ihr die Inklusion um?

Inklusion wird oft zu einfach gedacht. Sie wird in der Gesellschaft wie ein Siegel, zum Beispiel Bio oder vegan w,ahrgenommen. Im Diskurs geht es oft nur um das richtige Wording, eine Arbeitsstelle oder den Mindestlohn. Dabei ist sie so viel mehr. Inklusion ist ein Weg, der uns alle angeht – sie bedeutet Vielfalt. Jeder Mensch, egal ob mit oder ohne Behinderung, ist individuell und genauso individuell ist Inklusion. Man kann Inklusion nicht einfach machen oder dem Ganzen einen Stempel geben, sie ist ein Prozess. Wir haben vor ein paar Wochen passend dazu einen bekannten Spruch in unsere eigenen Worte adaptiert und eine Postkarte mit dem Statement „Inklusion ist kein Ponyhof“ entworfen.

Also ist Inklusion mit Mühe verbunden? Aber sie birgt auch Chancen, oder?

Eine US-amerikanische Soziologin und Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Harvard Business School hat es, wie ich finde, treffend in einem Zitat zusammengefasst: „Es braucht Mut, Vielfalt zu integrieren — und noch mehr, sie zu nutzen.“
Es war und ist mir sehr wichtig, auf Marinas Bedürfnisse und vor allem auf ihr Wesen einzugehen. Es hätte nicht funktioniert, wenn ich ihr eine Rolle übergestülpt hätte. Sie begleitet mich nun seit 37 Jahren. Ich kenne ihre Stärken und ihre Schwächen, weiß, wie ich sie motivieren und manchmal auch aus ihrer Komfortzone locken kann. Mit Mari & Anne hatte und hat sie die Möglichkeit, mit der Zeit in unterschiedliche Aufgaben hineinzuwachsen.

Welche Aufgaben hat Marina bei Mari & Anne?

Am Anfang begann ich, sie als Gesicht und Model einzusetzen und in ihrem Tempo weiterzudenken. Mittlerweile hat sie auch ihren eigenen Bereich, in dem sie gemeinsam mit mir Postkarten, Papeterie & diverse Merchprodukte mit ihrer Handschrift und ihren Motiven illustriert. Wir haben damit einen ungewöhnlichen und eigenen Bereich geschaffen. Das schätzen auch unsere Kund*innen sehr, weil viele von ihnen Marinas Entwicklungsschritte online miterleben können. Sie spüren die Authentizität unserer Marke. Mittlerweile finden sich auch in vielen Details unserer Produkte Marinas Illustrationen und ihre Handschrift als optisches und inklusives Statement.

Was macht eure Produkte sonst noch besonders?

Zum Schmunzeln: Die Produkte bei Mari & Anne haben teilweise wohlklingende Namen.

Alle unsere Produkte produzieren wir selbst in kleinen Chargen in Handarbeit in Franken. Wir setzen auf natürliche und wertvolle Rohstoffe aus der Natur. Ein zentraler Bestandteil aller Produkte ist das Öl aus dem Kern der Weintraube, die unter anderem in Franken angebaut wird. Traubenkernöl entsteht aus dem Abfallprodukt der Weinherstellung und ist eines der hochwertigsten Öle. Wir arbeiten, außer bei zwei unserer Flüssigprodukten, komplett ohne Wasser, künstliche Stabilisatoren und Konservierungsmittel. Das macht die Produkte hochwertig, ergiebig, hautschonend und pflegend. Darüber hinaus nutzen wir weitere hochwertige Öle auf pflanzlicher Basis, die frei von Mikroplastik, Parabenen, Silikonen, Tierversuchen sowie künstlichen Zusätzen sind und die Haut zusätzlich pflegen und schützen. Alle Produkte sind biologisch abbaubar, vegan oder vegetarisch. Zudem sind unsere Produkte unisex für die Geschlechter, aber auch unisex für unterschiedliche Körperteile.

Was sind die Prinzipien eurer Arbeit?

Mari & Anne vereint Tradition und Moderne mit Minimalismus, einem Augenzwinkern und frischem Blick auf die Welt. Mit unserem Unternehmen leben wir die Vision einer Marke, die durch persönliche Erfahrungen Menschen in den Mittelpunkt unternehmerischen Handelns stellt. Wir leben eine ehrliche und offene Unternehmenskultur und nehmen unsere Kunden*innen mit auf unsere Reise. Wir wollen andere inspirieren, Mut machen, Veränderung aktiv leben sowie kreative Projekte anstoßen und umsetzen. Dafür wurden wir 2021 im Namen der Bundesregierung als eines von 32 Unternehmen deutschlandweit als Kultur- und Kreativpilot*innen ausgezeichnet. Darüber hinaus erhielten wir 2022 den EDITION F Award für mehr Mut in der Kategorie Wirtschaft.

Ihr habt auch die Aktion #lassmalwirsein ins Leben gerufen. Was hat es damit auf sich?

Ich habe unter anderem Fotografie und Design studiert. Vor 11 Jahren habe ich durch eine Fotoarbeit über meine Schwester Marina erkannt, welche Kraft die Kombination von Fotografie und Worten hat. Dank des Anstoßes meines Mentors und Freundes Peter Bialobrzeski landeten Marinas Fotos damals 2015 auf der Shortlist des Sony World Photography Awards. Sie wurden dadurch auch in der New York Times, bei der BBC und in diversen Print- und Onlinemedien weltweit veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht erkannt, wie wichtig diese Sichtbarkeit für Marina und andere Menschen mit Down-Syndrom werden würde.

Was meinst du damit?

Die pränatale Diagnostik hat sich rasant entwickelt. Neun von zehn Eltern entscheiden sich bei der Diagnose eines Down-Syndroms gegen ihr Kind. Die vorgeburtliche Diagnostik beruht auf der Angst vor einer Behinderung und wird von tief verwurzelten und weit verbreiteten Vorstellungen in unserer Gesellschaft getrieben, die sich durch Aussagen wie „Leiden verhindern“ oder „Belastungen für sich selbst und die Gesellschaft vermeiden“ äußern. Diese Entwicklung hat eine große Tragweite und wirft eine zutiefst menschliche Frage auf: Welchen Wert hat ein Leben?

Marina ist eine junge Frau, die das Leben liebt. Ich wollte die Marke Mari & Anne als Multiplikator nutzen, um diese Sichtweise auch Menschen außerhalb des sozialen Kontexts und vor allem in der Wirtschaft zu zeigen. Daraus entstand die Idee zu #lassmalwirsein. Geschichten zu erzählen und anderen Persönlichkeiten mit Down-Syndrom auf unkonventionelle Weise eine Sichtbarkeit online und offline zu ermöglichen, unabhängig von sozialen Trägern. Denn Sichtbarkeit ist der Anfang und der Schlüssel für ein inklusives Miteinander.

Was beinhaltet die Aktion genau?

Seit 2021 entwerfe ich jedes Jahr ein Magazin, das wir in einer Auflage von 10.000 Stück drucken. Aktuell treffe und porträtiere ich dafür fünf bis sechs Persönlichkeiten mit Down-Syndrom. Ihre Geschichten werden in Form von Texten und Interviews von meiner Kollegin Ina-Alexandra Reschetilowski erzählt. Sie finden sich dann einmal im Jahr in dem Magazin, das „Lass mal wir sein“ heißt, wieder. Das Besondere daran ist, dass wir viele Unterstützer*innen und Multiplikator*innen in Form anderer Unternehmen an Bord haben, die das Heft hauptsächlich in ihren Onlinebestellungen für Alltagsgegenstände wie Kleidung, Spielsachen und Nahrungsmittel ab dem Welt-Down-Syndromtag am 21.3. jedes Jahres verteilen. In den letzten Jahren haben bis zu 50 verschiedene Unternehmerinnen und Unternehmer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz online und offline an unserer Aktion teilgenommen und sie mit Spenden und Sichtbarkeit unterstützt. Auch bei Mari & Anne wird das kleine Magazin jeder Bestellung beigelegt.

Was hat das für eine Wirkung?

Das Schöne ist, dass unsere Hefte dadurch an Menschen gelangen, die sich vermutlich sonst nicht mit dem Thema auseinandersetzen würden. Langfristig planen wir ein Buchprojekt und eine Ausstellung zu „Lass mal wir sein“. Letztes Jahr habe ich für die Aktion mit sieben Frauen den Lass mal wir sein e. V. gegründet.

Viele Menschen haben gewisse Berühungsängste gegenüber Menschen mit Behinderung. Wie läuft die Zusammenarbeit bei Mari & Anne ab?

Ich denke, Berührungsängste sind nie einseitig, sondern bestehen immer auf beiden Seiten. So auch bei Marina. Die Frage ist doch viel mehr, ob ich bereit bin, einen Menschen, unabhängig von Herkunft, Religion, Behinderung, Geschlecht, so zu akzeptieren, wie er ist, mit all seinen Facetten.

Unser Team bei Mari & Anne bestand anfangs vorwiegend aus Familienmitgliedern, was Marina ein großes Sicherheitsnetz bot. Mittlerweile sind wir ein Team mit bis zu acht Personen, darunter auch Aushilfen. Manche davon kommen und gehen, andere bleiben. Dadurch hat Marina bei der Arbeit ausschließlich Kontakt zu Menschen ohne körperliche oder geistige Behinderung, was wir als Inklusion verstehen. Durch Mari & Anne hat Marina die Möglichkeit, sich als Teil von etwas zu betrachten. Seit zweieinhalb Jahren nehme ich sie beispielsweise bewusst mit zu größeren Messen in Süd- und Norddeutschland oder, so weit es durch unsere unterschiedlichen Wohnorte möglich ist, auch zu größeren Veranstaltungen. Dadurch kommt sie viel mehr mit dem alltäglichen Leben in Berührung, das sie so in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung nie kennenlernen konnte.

Im Kontext der Arbeit ist es für neue Mitarbeiter*innen wichtig zu wissen, dass Marina nur einzelne Buchstaben lesen und schreiben kann und ihre Aussprache nicht immer verständlich ist. So können sie Verständnis entwickeln und einen eigenen Umgang miteinander erarbeiten. Mittlerweile ist zum Beispiel allen bekannt, dass Marina täglich auf der Arbeit einen kleinen Powernap hält und freitags im Homeoffice arbeitet.

Was muss sich in Deutschland ändern in Bezug auf Menschen mit Behinderung?

Für unsere Aktion „Lass mal wir sein“ nutze ich immer wieder den Slogan „Listen. Learn. More awareness. Talk about it!“ Meine Schwester hat mich gelehrt, eine Behinderung nicht als Hürde, sondern als Teil der menschlichen Vielfalt zu sehen. Ich bin der Meinung, dass offen zu sein, zuzuhören, zu lernen und zu verstehen, ein sehr großer Hebel in unserer Gesellschaft ist. Dies trifft nicht nur auf Inklusion zu.

Laut dem Statistischen Bundesamt in Deutschland haben etwa 10,9 Millionen Menschen in Deutschland eine anerkannte Schwerbehinderung. Die meisten Behinderungen entstehen allerdings nicht vor der Geburt, sondern im Laufe des Lebens durch einen Unfall oder eine Krankheit. Wenn wir alle – und hier schließe ich mich mit ein – mehr mit der Haltung leben würden, dass es nicht nur Schwarz oder Weiß gibt, sondern die Welt vielfältig ist, müssten wir nicht darüber nachdenken, was sich verändern müsste.

Wenn ihr mehr über Mari & Anne erfahren wollt, schaut doch mal auf ihrer Webseite, bei Instagram oder Facebook vorbei.

Mehr Infos zur Initiative „Lass mal wir sein“ findet ihr hier.

 

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