Interview: Isabel Lemper
Nirmalas Arbeit bringt Fragen mit sich, die man sich selbst nicht so ohne weiteres stellen mag oder kann: Warum bricht meine Lust in der Sexualität ständig wieder ab? Warum traue ich mich nicht, Grenzen zu setzen? Weiß ich überhaupt, was mir gut tut und was ich brauche, um mich fallen lassen zu können? Kann ich das meinem Partner, meiner Partnerin gegenüber offen ansprechen? Was kann ich tun, dass ich eingefahrene Muster nicht auf meine Kinder übertrage? Wieso ist es mir so peinlich, über Sexualität zu sprechen? Diesen und vielen anderen Fragen geht Nirmala mit den Menschen, die sie aufsuchen, auf den Grund.
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Liebe Nirmala, was ist das Anliegen, das du mit deiner Arbeit verbindest?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir uns so oft mit anderen vergleichen und uns selbst abwerten. Wir sind fokussiert auf Selbstoptimierung und spüren dabei aber gar nicht richtig in uns hinein. Wenn ich meine Teilnehmer*innen frage, was sie gerade in ihrem Körper wahrnehmen, wo es eng ist und wo weit, dann können die meisten das gar nicht beantworten. Wir sollten wieder mehr mit uns in Kontakt kommen. Dafür müssen wir aber wieder in Verbindung mit unserem Körper und unserem Fühlen kommen und bereit sein, uns unseren Schatten zu nähern.
Wieso ist die Fähigkeit, sich selbst zu spüren, in uns verloren gegangen?
Die Generationen vor uns waren viel mit Kriegen und Wiederaufbau beschäftigt. Stets ging es darum, sich eine Grundversorgung zu sichern und wieder ins Leben zu kommen. Aber jetzt, da wir alle grundversorgt sind, kann es auch wieder um etwas anderes gehen. Den meisten Menschen geht es gut. Wir haben alles, was wir für das tägliche Leben benötigen. Was wir jetzt brauchen, ist die Bewegung zu uns hin, und das finde ich einfach mega spannend. Wenn wir gut in uns selbst hineinfühlen können, können wir uns auch wieder emotionsoffen und bedürfnisorientiert um unsere Kinder kümmern. Und wir können das Beste dafür geben, damit neue Generationen ohne Entwicklungstraumata heranwachsen.
Wie kann ich diese Fähigkeiten wieder erlernen?
In den Seminaren für Selbsterfahrung geht es um korrigierende neue Erfahrungen. Wir wissen, dass wir alte Erfahrungen überschreiben können. Wenn ich zum Beispiel nie richtig gesehen, nie in den Arm genommen oder nie ohne Gegenleistung gelobt wurde, dann kann ich das in den Seminaren neu kreieren. Da sind Menschen, die einfach da sind, Augenkontakt halten, mir liebevoll über die Haare fahren oder mich einfach im Arm halten, ohne dass ich mit ihnen in einer Liebesbeziehung sein muss. Es geht darum, seinen kindlichen Teil, der vielleicht in der Vergangenheit wenig bekommen hat, wieder nachzunähren. Das funktioniert in den Seminaren wirklich richtig gut. Ganz nach dem Motto: “ Feel to be felt.“ Fühlen, um gefühlt zu werden.“
Wie kamst du zu dem, was du heute machst?
Nach meiner Ausbildung in Sexualberatung kam noch eine Somatic Experience-Ausbildung dazu. Das ist ein körperorientierter Ansatz, um traumatischen Stress zu lösen. Ich hatte festgestellt, dass eine Sexualberatung ohne Traumahintergrund wenig sinnvoll ist. Manchmal haben sexuelle Schwierigkeiten und gehemmte Lust ihren Ursprung in traumatischen Hintergründen oder in frühen ungünstigen Bindungs-Prägungen – zum Beispiel eine Angst vor Expansion, weil diese mit negativen Erfahrungen aus der Kindheit verknüpft ist. Expansion, das heißt in diesem Fall die Entfaltung positiver und negativer Gefühle, die aber für lustvolles Erleben nötig ist.
Kannst du dazu ein Beispiel nennen?
Wenn ich aus einer Familie komme, in der klar ist, dass man nicht zu laut und lebendig sein darf, habe ich gelernt, dass ich mich immer zurücknehmen muss. Wenn ich also zu expansiv wäre, kann ich davon ausgehen, dass es Stress mit meinen Eltern gibt. Also bringe ich mir bei, mich nicht auszudehnen. Gleichzeitig soll ich aber Sexualität leben und mich ausdehnen. Ich soll also ganz wunderbar sein und in meine Lust reingehen. Es ist aber bei ganz vielen Menschen so, dass durch die Expansion die Lust dann einfach abbricht. Sie können bis zu einem bestimmten Punkt mitgehen und dann fallen sie einfach raus aus der Lust. Das hat bei manchen Menschen zum Beispiel entwicklungstraumatische Hintergründe.
In welcher Form bietest du deine Hilfe an?
Ich leite viele Seminare, zum Beispiel auch ein Geburtsseminar, in denen seelische Verletzungen und Mängel aus der vorgeburtlichen Zeit und der Zeit nach der eigenen Geburt nachgenährt werden. Oder auch zum Thema Bindungsmuster: „Darum prüfe, wer sich ewig bindet“ ist ein Seminar, bei dem wir erforschen, welche Auswirkungen unser erlerntes Bindungsmuster auf unsere Paarbeziehungen heute hat.
Mit einer Kollegin von „Bewusster Leben und Lieben“ habe ich vor kurzem ein Seminar zum Thema Orgasmus angeboten. Ich mache relativ viel für Frauen, wo es darum geht, sich selbst, seinen Körper und die eigene Lust besser wahrzunehmen und kennenzulernen. Es geht um Sinnlichkeit und wie ich in Kontakt mit mir selbst kommen kann. Was macht Berührungsqualität und Langsamkeit aus, wenn ich in Kontakt komme? Wie wichtig ist Präsenz?
Du bietest auch einen Frauenkreis an, der sich Schwestern:Bande nennt. Worum geht es da?
Es geht um Gemeinschaft. Wir Frauen unterstützen uns gegenseitig und forschen gemeinsam. Wir kommen aus so vielen tausenden Jahren Patriarchat. Was heißt es in unserer Welt nun, eine Frau zu sein? Es geht also darum, sich mit all seinen weiblichen Qualitäten neu zu finden. Dafür sollten wir uns Zeit und den Raum dafür nehmen, das zu entdecken. Die meisten Frauen in meiner Generation wissen nicht einmal, wie ihre Vagina ausschaut. Die haben gar keinen Bezug dazu. Da kommen Frauen in meine Praxis und sagen, dass sie sich noch nie unten angeschaut haben. Wie kann es denn sein, dass du einen Körperteil hast, den du noch nie angeguckt hast und gar nicht richtig kennst? Dein Gesicht schaust du ja auch täglich im Spiegel an. Da ist es mein Anliegen, Normalität in die Körperwahrnehmung hineinzubringen.
Das ist wirklich ein wichtiges Thema. Gibt es so etwas Ähnliches auch für Männer?
Es gibt auch Angebote für Männer und es gibt gemischte Jahresgruppen. Da geht es viel um Selbsterfahrung. Wir befassen uns mit Themen wie Liebe und Sexualität, Wahrhaftigkeit und Grenzen oder auch Gefühle. Die Teilnehmer*innen erhalten Impulse, die sie zuhause erforschen dürfen, bis wir uns dann wiedersehen.
Was war eines deiner schönsten Erlebnisse in deiner Arbeit?
Puh, es gibt echt extrem viele von diesen kleinen wundervollen Momenten. Das schönste Erlebnis der letzten Zeit war bei einem der Geburtsseminare. Ich werde ja jeden Tag mit dem Schmerz anderer Menschen konfrontiert und kann damit gut umgehen. Irgendwie fällt mir das ganz leicht. Da war aber plötzlich so viel Liebe im Raum und das hat mich wirklich gepackt. Am ersten Abend dachte ich, dass mir das viel zu viel ist, zu intensiv. Aber was war mir eigentlich zu viel? Dann saß ich so da, schaute mir die Menschen im Raum an und begann zu weinen. Es hat sich ein bisschen so angefühlt, als ob da vierzehn Neugeborene bei mir sitzen. Meine ganze Liebe galt in dem Moment diesen vierzehn Babys. Das hat mich sehr geflasht.
Du begleitest auch Themen-Abende für Frauen, bei denen ihr die verschiedenen Vulva- und Phallus-Typen anschaut und darüber sprecht, was die Unterschiede im Empfinden der einzelnen Yonis und Lingams (die tantrischen Begriffe für die Genitalien) sind. Sollte man solche Erfahrungen nicht schon als Heranwachsende*r machen können?
Tatsächlich laufen sehr viele erwachsene Frauen und Männer ewig lang durchs Leben und denken, dass irgendetwas da unten mit ihnen nicht stimmt, weil ihnen das vielleicht auch so rückgemeldet wurde. Aber es gibt eine so große Vielfalt von Yonis und Lingams, so wie eben auch jeder eine andere Nase hat. Das Kürzen der inneren Venuslippe ist eine der häufigsten Schönheitsoperationen in Deutschland. Damit lassen sich Frauen manchmal auch jegliche Empfindungsfähigkeit abschneiden – nur, um einem Schönheitsideal zu entsprechen. Das ist wirklich richtig bedenklich.
Spielen da Pornografien auch eine große Rolle?
Der Pornokonsum in Deutschland beginnt bei Jungs teils schon mit 11 Jahren. Und auch vorher kann man beim Surfen im Internet bereits mit pornografischem Material konfrontiert werden. Was man da vorgelebt bekommt, ist alles andere als realitätsnah. Dann haben die Jungs vielleicht mit fünfzehn Jahren ihre erste Freundin, sehen eine Yoni zum ersten Mal in live und sind verunsichert. Wenn sie das dann dem Mädchen rückmelden, stecken diese schnell in Komplexen und Schamgefühlen. Und sobald du denkst, dass mit dir da unten etwas nicht in Ordnung ist, hat das große Auswirkungen auf dein Selbstwertgefühl und deine Entwicklung der Sexualität. Das ist echt krass.
Das ist ja dann eigentlich auch ein Thema für den Schulunterricht …
Die Unterschiede der Genitalien sollte man in Lerneinrichtungen kennenlernen. Es gibt ja immer noch grauenhaften Aufklärungsunterricht in manchen Schulen, weil die Lehrkräfte selbst nicht geschult sind. Was sollen sie da auch weitergeben? Tatsächlich hatte ich schon mehrmals Lehrer*innen bei mir in der Praxis, die erzählt haben, dass sie sich schämen, wenn sie über diese Themen vor der Klasse reden. Gerade Kinder haben ja ein superfeines Gefühl und merken, wenn da jemand steht, der sich in seiner Haut nicht wohl fühlt. Und das überträgt sich unbewusst auf die Kinder. Dann sind auch für sie diese Themen irgendwie peinlich und mit Scham besetzt. Wenn es keine korrigierenden Erfahrungen im Elternhaus gibt, wo man entspannt darüber reden kann, dann verankert sich das bei uns im Gehirn. Dass es also peinlich und schambesetzt sein muss, über Sexualität zu sprechen. Dementsprechend haben Lehrer*innen da auch eine große Verantwortung – nicht nur auf dieses Thema bezogen.
Gibt es noch etwas, das dir am Herzen liegt?
Glaube nicht an die negativen Dinge über Egoismus, die dir eventuell deine Eltern beigebracht haben. Oft wurde einem gesagt, man darf auf keinen Fall egoistisch sein. Das finde ich so furchtbar, weil das so negativ besetzt ist. Aber es gibt eben auch den positiven Egoismus. Es ist doch wertvoll, einen guten Eigenbezug zu haben, sich gern zu mögen und gut mit sich klarzukommen. Das ist die Basis für alles!
Finde einen liebevollen, wohlwollenden und wertschätzenden Kontakt zu dir selbst und bewege dich von diesem Punkt aus hinaus in die Welt. Hab keine Angst, mit den Dingen, die im Untergrund brodeln und die du irgendwann aus gutem Grund aus deinem Gewahrsein verbannt hast, wieder in Kontakt zu kommen!
Du bist neugierig geworden? Mehr Infos findest du auf der Homepage von Nirmala Sabine Held. Einige Sexeducation-Workshops wie zum Beispiel Intimmassagen am Mann (Handarbeitsabend) und an der Frau (Handwerkerabend) finden auch online statt.
https://www.insidetouch.de/
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