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Venedig kann ganz anders sein

Spaziergang zu den violetten Artischocken
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von Dr. Birgit Weichmann

Blick auf Rialto

Venedig hat mich Anfang der 1990er Jahre gepackt. So fest, dass ich gleich etwas über die Stadt schreiben wollte. Und dann hat sie mich nicht wieder losgelassen. Die Stadt ist mein Kraftort. Ein Ort der Entschleunigung. Ein Ort, an dem ich nichts muss, aber viel kann. Kunst betrachten oder die Wellen im Kanal beobachten, auf meinem Lieblingsplatz, dem Campo San Giacomo dall’Orio, bei einem Glas Wein den Kindern beim Fußballspielen oder dem Gemüse im dortigen Community Garden beim Wachsen zusehen. In der Bar Al Squero zu jeder Tageszeit einen Spritz all’Aperol und ein raffiniert belegtes Cicchetto genießen, oder an den Zattere bei Nico ein Stück in Schlagsahne ertränktes Nougateis auf die Hand erstehen und damit am Giudecca-Kanal entlangschlendern… Und all das zu Fuß, in einer Geschwindigkeit, mit der meine Seele mithalten kann.

Wie kennst Du Venedig?

Voll prächtiger Palazzi, voller Kirchen, die überborden von berührender, großer Kunst, dominiert von Gassen mit malerisch bröckelnden Fassaden und engen Kanälen, auf denen Gondolieri in rot-weiß gestreiften Pullovern ihr spitz zulaufendes Gefährt gemächlich durchs Wasser gleiten lassen? Kennst Du die kleinen Bars, in denen Du im Stehen köstliche Häppchen schnabulieren und dabei einen Ombra trinken kannst, ein winziges Glas Wein oder einen Spritz, der in der Lagunenstadt seinen Ursprung hat? Oder die ruhigen kleinen Plätze, auf denen man lange sitzen kann und die Seele baumeln lässt und dazu an einem Prosecco nippt? Vielleicht kennst Du das Venedig, das sich alle zwei Jahre der Gegenwartskunst und in den Museen von Weltruf seit Jahrhunderten ihren einheimischen Künstlergiganten widmet? Du kennst den Dogenpalast, den Markuplatz, den Canal Grande und die Rialtobrücke?

Oder kennst Du das Venedig, das seit ein paar Jahren für negative Schlagzeilen sorgt und Einheimische aufrüttelt, sich zu Bürgerinitiativen zusammenzuschließen? Gegen die Touristenmassen, gegen die gefährlichen Abgase, mit denen die Kreuzfahrschiffe die autofreie Stadt verpesten, gegen die riesigen Schiffe, die sich direkt vor dem zur Miniatur schrumpfenden Dogenpalast vorbeischieben? Das Venedig der drastisch sinkenden Einwohnerzahlen oder das Venedig, das aufgrund seiner vielen Touristen Gefahr läuft, die Anerkennung als Weltkulturerbe zu verlieren, einen Titel, den die Stadt im Wasser immerhin schon seit 1987 tragen darf? Venedig ist all das. Doch Venedig kann auch ganz anders sein.

 

Sant’Erasmo, die größte Insel der Lagune

Ich führe Dich heute in ein Venedig, das die wenigsten kennen. Als Kontrast zu den Menschenmengen und der Kultur des historischen Zentrums Venedigs begeben wir uns aus der steinernen Stadt mitten hinein in die Natur, auf die Insel, die Venedig seit Jahrhunderten mit Gemüse versorgt. Wir machen eine Zeitreise in die Langsamkeit von Sant’Erasmo, die größte Insel in der Lagune. Sie liegt östlich von Venedig und südlich von Murano und Burano.

Los geht die Insel-Tour, die ich für die erweiterte Neuauflage meines Venedig-Reisführers CityTrip recherchiert habe, mit einer Schifffahrt von der Anlegestelle an den Fondamente Nove. Mit dem Linienschiff 13 dauert die Fahrt bis zu Venedigs Gemüsegarten etwa eine halbe Stunde. 30 Minuten, während denen dem Besucher ein wunderbarer Blick in die Lagunenwelt gewährt wird und sich zudem – bei entsprechend klarem Wetter – über dem grau-grünen Wasser das ganze Panorama der Alpen entfaltet.

Für den Spaziergang um die Insel bietet sich die erste Haltestelle als Ausgangspunkt an, Sant’Erasmo Capannone. Auf der ganzen Insel, auf der knapp 700 Menschen wohnen, gibt es nur ein einziges Lebensmittelgeschäft, nahe der Haltestelle Sant’Erasmo Chiesa, und zwei Lokale. Bei der gut dreistündigen Wanderung ist die Einkehr daher unbedingt vorzuplanen oder ein Picknick mitzunehmen, denn sonst sitzt man auf der Insel ziemlich auf dem Trockenen. Für Picknicke finden sich viele lauschige Plätze am Wasser. Das Restaurant im Hotel Lato Azzurro und das Lokal Al Bacan, das von den Einheimischen Ai Tedeschi genannt wird, liegen nicht weit voneinander entfernt im Südwesten Sant‘Erasmos.

Sant’Erasmo ist für seine violetten Artischocken berühmt.

Gemüse von der Insel gibt es in Venedig überall zu kaufen. „Nostrani“ findet sich auf vielen Preisschildern der Marktstände am Rialto als Hinweis auf die Herkunft des Gemüses. „Einheimisch“ heißt in diesem Fall so viel wie „von Sant’Erasmo“. Das Gemüse von Sant’Erasmo erkennt man leicht: Es zeichnet sich durch einen leicht salzigen Geschmack aus, denn die Insel liegt mitten im Brackwasser der Lagune. Berühmt ist sie für ihre violetten Artischocken – eine Spezialität, das Markenzeichen Sant‘Erasmos. 60.000 Pflanzen wachsen dort. Besonders begehrt sind deren erste essbare Knospen, Castraure genannt, die traditionell roh gegessen werden. Doch nach ihnen geht die Ernte weiter, denn jede der Pflanzen kann bis zu 26 Knospen tragen. Wer möchte und zur Erntezeit (bis im Mai) unterwegs ist, kann sie direkt beim Artischockenbauern kaufen.

 

Ruhe und Menschenleere direkt vor den Toren Venedigs

Mit dem Spaziergang wird die ganze Insel umrundet, zwischen Artischockenbeeten und Weinreben, an Blumenkohl und Salatköpfen, an gackernden Hühner und bellenden Hunden vorbei. Rund neun Kilometer lang geht es eben dahin. Wem die Strecke zu lang wird, kann die Tour jederzeit über einen nord-süd-verlaufenden Weg abkürzen. Wie herum die Tour gegangen wird, ist egal, doch wer eines der Lokale gegen Ende der Tour ansteuern will, sollte sich an der Haltestelle erst einmal links halten und der Asphaltstraße bis zur Kirche folgen. Zunächst kommen wir dort an einem großen Weingarten vorbei. Hier hat der Franzose Michel Thoulouze, der berühmt dafür ist, dass er in seinem früheren Leben in Frankreich dutzende Fernsehsender gegründet hat, auf vier Hektar drei verschiedene Weißweinsorten gepflanzt. Seinen „Orto“, einen frischen, mineralischen Cuvée, verkauft er seit 2008 und belebt damit eine Weinbautradition neu, die schon im 17. Jahrhundert dokumentiert ist. Rund 15.000 Flaschen produziert er jährlich.

Schatten gibt es während der Tour wenig, dafür ein unerwartetes Naturerlebnis, Ruhe und Menschenleere direkt vor den Toren Venedigs – von den saisonalen Stechmücken ganz zu schweigen. Nur ab und zu schreckt das Geknattere eines altersschwachen Gefährts auf, meist einer dreirädrigen Ape mit Ladefläche, die das Hauptfortbewegungsmittel von Sant’Erasmo zu sein scheinen.

Kurz vor dem nordöstlichen Ende der Insel fallen in unmittelbarer Nähe die Zypressen der Nachbarinsel San Francesco del Deserto mit ihrem Franziskanerkloster auf. Im Hintergrund lugt der schiefe Kirchturm von Burano hervor. Weiter östlich davon sind die Insel Torcello und ganz am Horizont der Flughafen Venedigs auszumachen. Wir folgen der Kurve nach rechts, wo das Sträßchen bald in einen Kiesweg und dann in einen Trampelpfad an einem kleinen Kanal übergeht. Bald geht es an einem Fußweg-Schild im rechten Winkel nach links ans Ufer der Lagune und fortan laufen wir malerisch am Wasser weiter. Vogelliebhaber finden gerade hier viele verschiedene Arten wie den Sichelstrandläufer oder Wasserläufer.

Am südwestlichsten Punkt der Insel beeindruckt der Blick auf die benachbarte Insel Le Vignole und die farbigen Boote der Fischer bzw. die Yachten der Einheimischen, sowie das scheinbar in greifbarer Nähe liegende Forte Sant’Andrea aus dem 16. Jh.. Schön ist auch der Blick nach Süden auf die Halbinsel von Cavallino, zu der man meint, hinüberlaufen zu können. Vor dem Restaurant Al Bacan/Ai Tedeschi lädt ein Sandstrand zum Baden ein.

Unweit des Lokals beeindruckt auf dem Weg zur Haltestelle für die Rückfahrt der Turm Torre Massimiliano, ein massives Bollwerk der Habsburger, das 1848 Kaiser Maximilian als Zufluchtsort diente und heute als Ausstellungsort inmitten von Gemüsefeldern steht. Von dort geht es am Lato Azzurro vorbei schnurstracks gen Norden, wieder zurück zum Anleger Capannone, von wo aus einen die Linie 13 zurück zu den Fondamente Nove bringt.

Wer möchte, kann die Insel auch mit dem Rad erkunden, zu mieten im Hotel Lato Azzurro. Es bietet sich auch an, den Spaziergang mit einem Besuch der direkt der Haltestelle gegenüberliegenden Insel Lazzaretto Nuovo (https://www.lazzarettonuovo.com/visita-lisola/) zu kombinieren. Dies geht aber nur mit Führung, die man vorab reservieren muss.

 

Birgit Weichmann hat ihre Tour auf Sant’Erasmo per gps aufgezeichnet: https://www.reise-know-how.de/citytrip/venedig17/GoogleMaps/sight-Walk

Man findet sie auch als einen von sechs Stadtspaziergängen in der 6. Auflage ihres Reiseführers.

 

Dr. Birgit Weichmann

Die promovierte Romanistin hat über den venezianischen Komödienautor Carlo Goldoni geforscht. Während der Recherchen für ihre Doktorarbeit und darüber hinaus hat sie längere Zeit in Venedig gelebt. Seither hat die Stadt sie nicht mehr losgelassen. Ihre Liebe zu Venedig hat sie in zwei verschiedene Reiseführer verpackt, die beide aktuell in der jeweils sechsten Auflage erschienen sind (https://www.reise-know-how.de/de/shop?populate=weichmann). Ihr „großer“ City Guide „Venedig und die Lagune“ ist 2006 von der ITB als bester deutschsprachiger Venedigführer ausgezeichnet worden.

 

 


CityTrip Venedig, Reise Know-How Verlag, 6., neu bearbeitete und komplett aktualisierte Auflage 2017, 156 Seiten, 11,95 Euro.

ISBN: 978-3-8317-3003-2,

https://www.reise-know-how.de/de/produkte/citytrip/citytrip-venedig-47019

 

Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt.

Eine Antwort

  1. Ich fahre immer wieder gerne nach Venedig und zwar mit den Reiseführern von Frau Weichmann im Gepäck und bin immer wieder begeistert (von Venedig und den guten Tipps im Reiseführer)

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