von Franziska Iwanow
Was geht dir als Erstes durch den Kopf, wenn du „Selbstliebe“ hörst? Mit welchen spontanen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen reagierst du? Vielleicht geht dir an dieser Stelle das Herz auf. Du atmest tief durch, entspannst die Schultern, lächelst und wirst von einem warmen Gefühl durchflutet. Das wäre schön. 😊
Vielleicht gehörst du aber auch zu den Menschen, die sich von dem Aufruf zur Selbstliebe unter Druck gesetzt fühlen. Statt Leichtigkeit erweckt der allgegenwärtige Begriff überhöhte Ansprüche und einen Optimierungszwang: „Wenn ich mich nicht vollkommen selbst lieben kann, bin ich noch nicht weit genug.“ Möglicherweise reagierst du auch genervt, weil du Selbstliebe mit rosa Glitzer-Esoterik verbindest, mit der sich wenig kritikfähige Menschen rechtfertigen, um jedes unangenehme Verhalten als liebenswerte Eigenart umzudeuten.
Selbstliebe, ein strapazierter Begriff
Aus meiner Sicht ist „Selbstliebe“ ein inzwischen sehr überladenes Wort, auf das kaum jemand neutral reagiert. Von sehr positiv bis sehr negativ (unerreichbar oder gar nicht erstrebenswert) sowie dazwischen ist alles dabei. Wenn Menschen einen eigentlich klaren Begriff völlig unterschiedlich auslegen, wird es in der Regel richtig spannend. Denn was kann es an der Idee, sich selbst zu lieben, auszusetzen geben? Lass uns zusammen ein paar kursierende Missverständnisse rund um Selbstliebe ansehen …
Der Selbstliebe auf der Spur
„Selbstliebe bedeutet, sich immer großartig zu fühlen – vor allem selbstbewusst und glücklich.“
Sich in jedem Moment großartig zu fühlen und Mensch zu sein, schließt sich leider aus. Es wird immer wieder Anlässe für Traurigkeit, Ärger, Angst oder andere unangenehme Gefühle geben. Keinem dieser Gefühle Raum zu geben, hat nichts mit Selbstliebe zu tun.
Wenn die eigene Zufriedenheit gleichbleibend stabil ist, egal, was innen und außen passiert (auch wenn du gerade mit dem kleinen Zeh im Türrahmen hängengeblieben bist), ist man vielleicht Buddha oder hat Verdrängung und Ignorieren perfektioniert.
„Selbstliebe heißt, sich vollkommen anzunehmen und alles (!) an sich gut zu finden.“
Menschen, die ohnehin schon mit lauten Selbstzweifeln kämpfen, fühlen sich durch solche Botschaften noch unzulänglicher. Wir alle haben auch Eigenschaften, die weniger charmant und liebreizend sind. Manche davon können wir ändern, andere vermutlich nicht oder zumindest nur durch einen langen Lern- und Übungsweg. Das anzuerkennen und anzunehmen, ist tatsächlich sehr sinnvoll.
Deswegen muss man diese Eigenschaften oder Verhaltensweisen aber noch lange nicht lieben. Es reicht, sich deswegen nicht abzuwerten, sich nicht selbst zu beschimpfen oder gar dafür zu hassen. Zwischen „sich lieben“ und „sich abwerten“ ist zum Glück noch eine Menge Platz.
„Selbstliebe erfordert Perfektion.“
Viele denken, dass sie sich erst dann lieben dürfen, wenn sie bestimmte Ziele erreicht haben. Oder dass es erst dann echte Selbstliebe ist, wenn sie ihr Leben in jedem Moment so gestalten: tägliche Selfcare-Routine, ausgewogene Ernährung, tägliche Bewegungseinheiten, ausschließlich gesunde Beziehungen, ein erfüllender Job etc. Fühlt sich „Ich liebe dich erst / nur, wenn …“ wirklich nach Zuneigung an? Wohlwollen sich selbst gegenüber beginnt genau dort, wo man gerade steht.
„Selbstliebe heißt, immer dem eigenen Gefühl nachzugehen.“
„Ich liebe mich, also mache ich nur, was sich für mich gut anfühlt.“ Manche verwechseln Selbstliebe damit, jedem Impuls oder jeder Laune nachzugeben. Das wäre allerdings so, als würde ich meinem Kind alles erlauben, worauf es Lust hat, weil ich es doch liebe. Unbeschränkt Süßigkeiten, Medienzeit oder Schule schwänzen wären alles Zeichen meiner Zuneigung.
Tatsächlich bedeutet Selbstliebe auch, sich selbst Grenzen zu setzen, langfristig gute Entscheidungen zu treffen und dafür auch mal kurzfristig Unbequemes in Kauf zu nehmen.
„Selbstliebe bedeutet, immun gegen Kritik und Zurückweisung zu sein.“
Selbstliebe heißt nicht, dass man sich nicht verbessern oder Feedback annehmen kann. Und auch nicht, dass Ablehnung nicht mehr weh tut. Wer sich selbst liebevoll durchs Leben begleitet, ist mit seiner Entwicklung nicht „fertig“, wird aber zum Beispiel konstruktive Kritik nicht als Angriff auf den eigenen Wert sehen. Natürlich reagiert auch ein Mensch, der wohlwollend mit sich umgeht, auf gewisse Zurückweisungen emotional getroffen. Er wird sich dann aber trösten und unterstützen anstatt sich kleinzumachen.
„Selbstliebe ist eine Leistung: „Liebe dich selbst, dann liebt dich auch das Leben.“ „Liebe dich selbst und du kannst alles erreichen.“
Das klingt schön, motivierend und optimistisch. Was heißt das allerdings im Umkehrschluss? Dass du dich – wenn dich das Leben gerade einmal nicht so offensichtlich liebt, die Umstände schwierig sind (Armut, Krankheit, Unfälle) oder du deine Ziele (noch) nicht erreichst – eben nicht genug liebst?
Menschen, die sich selbst unterstützen, motivieren, für sich einstehen, haben ganz sicher höhere Chancen, erfolgreich ihre Ziele zu erreichen. Auf jeden Fall eher als Menschen, die sich selbst beschimpfen, sich nichts gönnen oder von sich erwarten, nur Schlechtes zu verdienen.
Aber auch selbstliebende Menschen erkranken, verlieren Angehörige, sind von Stellenabbau betroffen oder bekommen eine Wunschwohnung nicht. Selbstliebe ist kein Weg, um das Leben zu kontrollieren.
„Selbstliebe ist das Ziel.“
Jede Beziehung ist lebendig und kann an Tiefe gewinnen, solange sie währt. Warum sollte das in der Beziehung zu sich selbst anders sein? Ich bin überzeugt, wir können Selbstliebe bis zu unserem letzten Atemzug üben. Wir sind nie fertig damit. Selbstliebe ist also nicht das Ziel, sondern der Weg mit allen Höhen und Tiefen, die zu jedem Weg gehören.
Statt „Wenn ich mich endlich lieben kann, ist alles gut“ hin zu „Jede noch so kleine liebevolle Geste mir selbst gegenüber ist ein Schritt, der sich lohnt“.
„Selbstliebe ist Egoismus.“
In den vielen Jahren meiner Coachingtätigkeit begegneten mir erstaunlich oft Menschen, die mit Selbstliebe die Vorstellung verbanden, zur „Ego-Sau“ zu mutieren, nur noch an sich selbst zu denken und die Bedürfnisse aller anderen mindestens zu vernachlässigen. Ich erkläre mir das mit der Erziehung zu Bescheidenheit á la „Eigenlob stinkt“, bei der Selbstliebe schnell mit egozentrischer Selbstverliebtheit verwechselt wird.
Auch das ist die Falle des Schwarz-Weiß-Denkens: Entweder ich liebe mich und stelle mich über alle anderen. Oder ich liebe mich nicht und ordne mich den Bedürfnissen anderer unter. Dabei gibt es dazwischen auch den gesunden Egoismus, in dem man die eigenen Bedürfnisse genauso wichtig nimmt wie der anderen.
Sich selbst zu lieben bedeutet, sich gleichwertig wichtig zu nehmen. Nicht wichtiger als alle anderen, aber eben auch nicht weniger wertvoll.
Sich selbst lieben, muss das so kompliziert sein?
Bei so vielen Missverständnissen ist es kein Wunder, dass manche die mahnende Aufforderung „Liebe dich selbst!“ auf Instagram-Kacheln, in Podcasts und Büchern nicht mehr hören können. Einerseits soll man sich annehmen, wie man ist, andererseits gibt es überall Anleitungen, wie man noch besser werden kann. Aber ist Selbstliebe deswegen schlecht oder überflüssig?
Auf keinen Fall! Vielleicht ist die Erwartung, sich selbst bedingungslos zu lieben, einfach zu hoch gegriffen. Was, wenn es gar nicht darum geht, sich jeden Tag wunderbar zu finden? Jeden Tag das Beste aus sich selbst herauszuholen? Reicht es nicht, sich zu mögen? Sich eine innere Haltung zuzulegen, die auf Wohlwollen, respektvollen Umgang und Unterstützung beruht? Erst einmal Selbstachtung, ein bisschen mehr großzügige Sympathie, aus der möglicherweise im Laufe der Zeit Liebe entstehen kann.
Schritt für Schritt auf sich zugehen
Mir gefällt am besten das Bild, sich selbst ein guter Freund, eine gute Freundin zu sein. Meine Freund*innen bejuble ich auch nicht den ganzen Tag. Ich finde nicht unkritisch alles gut, was sie sagen und machen. Manchmal finde ich sie sogar anstrengend. Aber ich sehe immer das Liebenswerte in ihnen und würde sie auch dann nicht im Stich lassen, wenn es gerade schwierig zwischen uns ist.
Suche dir ein Wort aus, das für dich passend ist. Das Angebot in der ganzen „Selbst“-Familie ist ja groß genug: Selbstliebe, Selbstachtung, Selbstvertrauen, Selbstfürsorge, Selbstakzeptanz, Selbstannahme, …
Ich für mich bleibe bei „Wohlwollen“. Menschen, die sich selbst mit Wohlwollen begegnen, behandeln sich selbst wie ihre Liebsten. Sie feiern sich nicht in jeder Laune oder verteidigen jede ihrer Entscheidungen. Sie sehen in sich selbst einen Menschen mit Ecken und Kanten, der auch mal nervt, Fehler macht, sich verrennt und trotzdem Zuneigung und Unterstützung verdient. Gerade dann, wenn wir es schwer mit uns selbst aushalten können, sind Freundlichkeit und Verständnis angebracht.
Es gibt zum Beispiel Momente, da gehe ich mir furchtbar auf den Keks. Früher hätte ich in diesen Situationen sehr unfreundlich mit mir und über mich gesprochen. Ich hätte mir erzählt, dass es echt schlimm ist, dass ich dieses oder jenes immer noch nicht gebacken kriege: „Alle anderen schaffen es doch auch! Was muss ich mich jetzt schon wieder so anstellen?! Wie unfähig kann man sein?“
Heute kann ich mich an guten Tagen gedanklich lachend in die Seite knuffen, mir gut zureden und mich selbst aufheitern. An weniger guten Tagen weiß ich, dass alles nicht so wild ist und ich mich spätestens morgen wieder besser leiden kann. Auf jeden Fall kann ich mich darauf verlassen, dass ich wie eine treue Freundin an meiner Seite bleibe und es gut mit mir meine.
Selbstliebe, das bedeutet vor allem, gut mit sich selbst auskommen
Ist das die ultimative Selbstliebe? Wahrscheinlich nicht. Macht nichts. 😊
Dieser Text ist meine Einladung, Selbstliebe als entspannten, sanften, unperfekten Weg zu betrachten. Auf diesem Weg dürfen wir stolpern, innehalten, auch mal tanzen (zwei Schritte vor, einen zurück) und uns Weggefährt*innen suchen.
Ich wünsche dir Freude auf dem Weg, dir selbst eine gute Freundin, ein guter Freund zu sein!
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Podcast-Empfehlung!
Sehr zu empfehlen sind auch die Mutmachgespräche von Franziska: „Geschichten vom Leben und anderen Katastrophen“. Zu Gast bei ihr sind Menschen, die von kleinen und großen Krisen in ihrem Leben berichten und erzählen, was ihnen die Kraft für positive Veränderungen gegeben hat. Unter inzwischen 150 Folgen ist bestimmt die eine oder andere Episode dabei, die man vielleicht gerade selbst gut gebrauchen kann. Hier geht’s zum Stöbern: https://franziska-iwanow.com/podcast-mutmachgespraeche/