von Franziska Iwanow
Seit ich gebeten wurde, eine Kolumne über die Liebe zu schreiben, bin ich ambivalent. Sie ist vermutlich das schönste Thema, über das man schreiben kann – aber auch das übergroße. „Was ist Liebe?“ Darüber wird seit Jahrtausenden philosophiert.
Über sie wird gedichtet und geschrieben. Sie wird besungen, in Bildern und Skulpturen eingefangen. Ihr werden Theaterstücke und Filme gewidmet. Sie wird ersehnt, manchmal verklärt, mit Klischees überladen, überhöht und unterschätzt. Was ist Liebe? Wo sitzt sie? Wie entsteht sie? Wie fühlt sie sich an? Darauf gibt es trotz aller Erklärungsversuche und viel Forschung keine allgemeingültigen Antworten.
Was also soll ich in ein paar Hundert Wörtern zu diesen großen Fragen schreiben? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Gedanken, Fragen, Unsicherheiten und Gewissheiten tauchen auf in mir auf.
Was ist Liebe für mich? Ein Gefühl. Eine Haltung. Eine herausfordernde Einladung. Ein Geschenk. Eine Entscheidung. Ein Zustand.
Ein Gefühl
Manchmal ist sie laut, sicht- und hörbar, ansteckend, überwältigend, voller Begeisterung und Adrenalin. Manchmal ist sie ganz leise, zärtlich, kaum wahrnehmbar und doch warm und voller Verbundenheit. Und manchmal kommt sie aus dem Nichts. Eine kurze Begegnung, Momentaufnahmen, ein Sonnenstrahl im Wald, Kinderlachen, tröstende Worte, eine Umarmung. Ein Lächeln, das zeigt, „Ich sehe dich“.
Dann wieder ist sie das Ergebnis von ausdauerndem Kennenlernen. Liebe, die aus Zuneigung beständig gewachsen ist. Mal fließt das Herz über vor dankbarer Liebe, mal ist es die Wärme im Bauch. Mal bizzelt der ganze Körper, manchmal sitzt die Liebe in den strahlenden Augen.
Im einen Moment braucht Liebe Mut und Überwindung, im anderen ist sie das Leichteste, Selbstverständlichste der Welt. Sie zeigt sich in so vielen Formen: romantische Liebe, Liebe zur Familie, freundschaftliche Liebe, die Liebe zu Tieren, zu Geschichten, zur Musik, zu Orten, zur Natur oder zum Leben selbst. Nächstenliebe, Selbstliebe, spirituelle Liebe …
Leidenschaftlich und entspannt, empfangend und gebend, konkret und abstrakt – Liebe vereint Gegensätze in sich. Und so macht Lieben und geliebt werden auf der einen Seite unglaublich glücklich und hat auf der anderen Seite Schmerz im Gepäck. Niemand kann uns so verletzen wie die, die uns am nächsten stehen. Was uns lieb und teuer ist, wollen wir behalten, so dass wir Verlustangst vor allem dort spüren, wo wir lieben.
Eine Haltung
Deshalb finde ich, dass Liebe nicht nur ein Gefühl ist, sondern auch eine Haltung, die oft Mut erfordert. Wenn wir Liebe, Verbundenheit und echte Nähe wollen, müssen wir uns zeigen und ganz einlassen – mit dem vollen Risiko, dabei verletzt zu werden.
Durch welche Brille wollen wir die Welt sehen? Betrachte ich mich selbst mit strenger Abwertung oder mit einem liebevollen Blick? Sehe ich in meinen Beziehungen zu meinen Mitmenschen vor allem ihre Unzulänglichkeiten und Schwächen oder frage ich mich: „Was würde die Liebe sehen, tun?“
Schaue ich auf die Natur durch eine Kosten-Nutzen-Brille oder mit einem Blick, der versucht, das Schöne, Liebens- und Schützenswerte zu entdecken?
Ich bin überzeugt, dass eine liebevolle Haltung die Welt friedlicher stimmt, großzügig ist, gönnen kann, dankbar macht und innere Freiheit ermöglicht.
Eine herausfordernde Einladung
Eine liebevolle Haltung sich selbst, den Menschen, Tieren, der ganzen Welt gegenüber – das sagt und schreibt sich so leicht!
Zum einen ist es schwierig zu lieben, wenn man es selbst nie erfahren hat. Es gibt mehr als genug Menschen, die in ihrer Kindheit gelernt haben, lieber nach Sicherheit und Kontrolle zu suchen als nach Liebe. Die Liebe aufgrund ihrer Erfahrungen für eine Illusion, ein leeres Versprechen halten, das sich nur in Hollywoodfilmen und Bilderbüchern erfüllt.
Zum anderen wird die Liebe oft verklärt, überhöht, mit allerlei Klischees überladen und benutzt: „Nur in der romantischen Liebe zu zweit ist man vollkommen.“ „Wer sich wirklich liebt, streitet nie.“ „Eine Mutter, die ihre Kinder liebt, opfert sich auf und stellt alle eigenen Bedürfnisse zurück.“ „Wahre Liebe verzeiht alles.“ „Er tötete sie aus Liebe, weil sie ihn verlassen wollte.“ „Wenn du mich wirklich liebst, dann …“
Neben den Bedürfnissen nach Sicherheit und Freiheit ist uns das Streben nach Liebe, Verbindung, Zugehörigkeit allen gemeinsam – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Wohnort, Bildung etc. Aus meiner Sicht sind Liebe und die Sehnsucht nach ihr auch eine Einladung dazu, sie zu suchen, zu erkennen, zuzulassen und immer wieder zu hinterfragen, ob das, was man uns als Liebe vermitteln will, auch wirklich Liebe ist. Die Liebe, die uns wachsen, uns sicher und geborgen fühlen lässt, uns ermöglicht, frei und in Freude unseren eigenen Weg zu gehen.
Ein Geschenk
Zum Glück gibt es auch immer wieder Momente, da kommt die Liebe als Geschenk um die Ecke. Für die einen ist es ein Blick in treue Hundeaugen oder ein wohliges Katzenschnurren, das das Herz zum Überlaufen bringt. Jemand anderes fühlt die Liebe vielleicht beim ersten Schneeglöckchen des Jahres, bei einer Sinfonie oder dem Geruch von Omas Apfelkuchen. Wir können Liebe spüren, wenn wir mit Fremden lachen, uns für ein gemeinsames Ziel einsetzen oder von langjährigen Freund*innen ohne Worte verstanden werden.
Wenn von bedingungsloser Liebe gesprochen wird, bin ich in der Regel skeptisch. Für mich persönlich ist auch das ein überhöhter Anspruch. Meinen Mann liebe ich seit 23 Jahren und ich würde ihn sofort wieder heiraten. Diese Liebe fühlt sich dauerhaft an, aber bedingungslos ist sie nicht. Bedingungen, die wir aneinander haben, um unsere Liebe leben zu können, sind zum Beispiel Ehrlichkeit, Respekt, Loyalität.
Die Liebe zu unseren Kindern hingegen empfinde ich tatsächlich als bedingungslos und damit als enormes Geschenk. Unser ältester Sohn ist kein lang geplantes Wunschkind, war mir aber nach dem ersten Schock in großer Vorfreude sehr willkommen. Und doch hat mich nichts auf die Intensität und Tiefe dieser Liebe vorbereitet, die mich bei seiner Geburt völlig überwältigt hat. In meiner zweiten Schwangerschaft hatte ich furchtbare Angst, das zweite Kind nicht genauso intensiv lieben zu können wie das erste. Ich konnte mir damals einfach nicht vorstellen, dass so viel Platz in meinem Herz ist.
Festzustellen, dass ich nicht nur unsere Tochter, sondern auch ihre Brüder danach mit gleicher Tiefe liebe, war nicht nur erleichternd, sondern bleibt das größte Geschenk meines Lebens. Ich kann mir nichts vorstellen, was unsere Kinder sagen oder tun könnten, was meine Liebe zu ihnen verschwinden lassen könnte.
Was mich zu den Ausgangsfragen zurückführt: Was ist diese Liebe und woher kommt sie? Vielleicht ist sie doch ein Instinkt, eine neurologische Reaktion oder das Ergebnis eines Hormoncocktails? Oder doch die Essenz unserer Seelen?
Ich habe keine Ahnung. Fakt ist, dass die Erwartung, jede frisch gebackene Mutter würde nach einer anstrengenden Geburt beim Anblick ihres Babys in entzückte Liebe auf den ersten Blick ausbrechen, nicht der Realität entspricht. Im Gegenteil. Zeit zu brauchen, um eine belastende Geburt zu verarbeiten, das Baby kennenzulernen und in der neuen Rolle anzukommen, ist vollkommen normal. In diesem Teil meines Lebens hatte ich Glück und habe das Geschenk der Liebe gerne angenommen.
In welchen Situationen hat sich dir die Liebe geschenkt, liebe Leserin, lieber Leser?
Eine Entscheidung
In anderen Momenten kommt die Liebe nicht „einfach so“, sondern braucht mutige Entscheidungen: Grenzen setzen, an manchen Stellen loslassen, konsequent sein, gönnen können, den Mund aufmachen, verzeihen, einen ersten Schritt tun. Die Liebe pflegen und nie für selbstverständlich halten.
Liebe zeigt sich nicht nur in schönen Worten, sondern auch im Verhalten: Rücksicht nehmen, unterstützen, ehrliches Fragen und Zuhören, Fürsorge, Zuverlässigkeit …
Manchmal braucht es eine bewusste Entscheidung, die Liebe wahrzunehmen, auch wenn sie vielleicht nicht in der gewünschten Sprache ausgedrückt wird. Zwei Beispiele:
Ein schon lange erwachsenes Kind fühlt sich von den Eltern nicht geliebt, weil diese ihre Liebe nie in ersehnten Worten oder Umarmungen ausdrücken. Aber vielleicht sind sie durch die Prägungen ihrer Zeit nicht dazu in der Lage und zeigen ihre Liebe eher in Gesten wie der Hilfe beim Umzug, der Betreuung der Enkel, dem Bekochen oder der Reparatur des Autos.
Eine Frau fühlt sich von ihrem Partner nicht geliebt, weil er ihr so selten liebe Worte sagt. Vielleicht zeigt er seine Liebe, indem er ihr vom Einkauf ihren Lieblingsjoghurt mitbringt oder bei ihrem Auto im Winter die gefrorenen Scheiben freikratzt, bevor sie zur Arbeit fährt.
Nicht immer, aber immer wieder sind wir von mehr Liebe umgeben, als wir wahrnehmen.
Ein Zustand
Machen wir etwas aus Liebe? Oder um Liebe und Anerkennung zu bekommen? Vermutlich handeln wir oft aus beiden Motivationen heraus. Das ist völlig okay. Liebe beinhaltet auch eine gewisse Bedürftigkeit. Oder sogar eine Abhängigkeit, z. B. zwischen kleinen Kindern und Eltern. Auch das ist okay!
Und gleichzeitig ist es gut, sich diese Fragen ab und an zu stellen. Denn Liebe kann man lernen. Wir lernen, sie zu erkennen,zuzulassen. Wir lernen, unsere Sprache der Liebe zu sprechen – und die der anderen zu verstehen. Vielleicht verlernen wir sie manchmal auch wieder ein bisschen – aus Enttäuschung, aus Überforderung, aus Schutz. Und dann beginnen wir von vorn mit dem Herz-Öffnen und Üben.
Auch wenn die Liebe nicht immer reicht, nicht alles heilt, manchmal nicht erwidert wird und nie so ganz zu fassen ist, bleibt sie der Weg und das Ziel. Einfach, weil es sich lohnt. Weil die Liebe da ist und bleibt. Als Möglichkeit, als Gegengewicht zu Lieblosigkeit und Hass, als Ausweg, als Motor.
Liebe, die uns bewegt, verbindet, antreibt, ist am Ende alles, was zählt.
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