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Bestattungs- und Trauerkultur:

Wenn der Zeitgeist in den Friedhof einzieht

Nichts bleibt, wie es ist. Abläufe im Leben ändern sich. Das wirkt sich auch aufs Sterben und Verabschieden aus. Die Bestattungs- und Trauerkultur im Wandel – ein Streifzug.

Ein Beitrag zu UN-Ziel:

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von Gastautorin Anna Diller

Ein traditioneller Grabstein von hinten, in weiterer Ferne weitere Grabsteine
Friedhof in St. Englmar, Bayerischer Wald

Wenn an Allerheiligen die Menschen ihrer verstorbenen Angehörigen gedenken, wiederholt sich alljährlich ein christliches, kirchliches Ritual. Und doch ist etwas anders: Die Bestattungs- und auch die Trauerkultur verändern sich seit einigen Jahren. Der fränkische evangelische Theologe und Kunsthistoriker Reiner Sörries macht diese Entwicklung schon seit den 1990er Jahren aus, wie er in Aufsätzen zum „Umbruch in der Bestattungskultur“ schreibt. Wo sich das „Nachlassen traditioneller Bindungen und Konventionen, deren Nichtbeachtung keine Sanktionen mehr nach sich zieht“, breitmache, betreffe dies auch die Bestattungskultur, so sein Credo. Die Menschen fühlten sich immer weniger den Institutionen und Kirchen gegenüber verpflichtet.

 

Individualität zählt

Die eigene Individualität zählt mehr als früher: „In einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft wird die Erkennbarkeit der eigenen Identität zu einem wichtigen Anliegen“, so der Forscher. So wie sich die Gesellschaft verändere, verändere sich auch die Bestattungskultur. Das Bestattungsverhalten werde individualisierter und ausdifferenzierter und demnach auch das Angebot: von Urnenwänden über Trauerwälder bis hin zu anonymen Urnengrabfeldern oder weniger anonymen Gemeinschaftserdurnengräbern. Letzteres als Lückenschluss für mehr und mehr aufgelöste althergebrachte Erdgräber.

 

Auch auf dem Land verändert sich die Bestattungs- und Trauerkultur

Bestattungen um Bäume und Felsen im Waldfriedhof in Regen, Bayerischer Wald

Dieses Angebot und diese Entwicklung sind längst auch im Bayerischen Wald angekommen. „Je kleiner die Friedhöfe sind, desto traditioneller sind sie. Ansonsten machen die Veränderungen auch auf dem Land nicht Halt“, erzählt mir eine Angestellte eines Steinmetzbetriebs auf dem Friedhof in Kollnburg. Als gelernte Steinbildhauerin ist sie gerade dabei, den Namen einer verstorbenen alten Frau in den Grabstein des bestehenden Familiengrabs einzugravieren. Eine Arbeit, die man vor Ort nur im Frühjahr und Sommer machen kann. Auf bestimmte Arbeiten müssten die Leute daher warten, berichtet sie. Die Menschen würden aber immer ungeduldiger. Deswegen stelle sie mittlerweile auf Status, auf welchem Friedhof sie gerade arbeite, damit man sehen könne, „dass es halt auch noch andere Aufträge gibt“.

Zu tun gebe es trotz weniger Neuanlagen – was dem Trend zu Urnenbestattungen in Wänden, kleinen oder bestehenden Gräbern oder in Wäldern und Grabfeldern geschuldet sei – genug: „Weil es weniger Steinmetze gibt als früher, weil traditionelles Handwerk allgemein zurückgeht.“ Die 46-Jährige liebt ihren Beruf. Das merkt und sieht man, wenn sie gewissenhaft die eingefrästen Lettern mit weißer Farbe ausfüllt. Sie weiß und kann mit ihren Fähigkeiten auch auf die veränderten Kundenwünsche eingehen: „Die Grabgestaltung wird individueller. Vor Kurzem habe ich für eine Frau, die zu Lebzeiten Nelken liebte, Nelken eingraviert. Das klassische Kreuz ist halt traditioneller und rückläufiger“, bemerkt die Steinmetzin.

 

Je kleiner der Friedhof, desto traditioneller

Traditionell ist eher noch, dass vor allem die kleineren Friedhöfe weitgehend gepflegt sind. Bei einem Spaziergang fallen mir liebevoll bepflanzte Erdgräber auf, mit saisonalen Blumen entweder in den Beetausschnitten der Grabsteine oder in Schalen. Dort, wo sich keiner mehr um die Grabpflege kümmern kann, die letzte Ruhestätte aber trotzdem erhalten bleiben soll, bedecken mittlerweile meistens Platten die Gräber. Die Urnenerdgräber sind ohnehin mit einer kleinen rechteckigen Platte versehen. Und die Urnennischen sowie Baum- oder Wiesenurnenbestattungen sind am pflegeleichtesten. Das ist der Grund, warum viele Angehörige auf letztere Möglichkeiten zurückgreifen. Der Pflegefaktor der Gräber spielt eine entscheidende Rolle bei der Frage der Bestattungsform in einer Zeit, in der die Familienangehörigen immer weiter verstreut wegwohnen.

 

Die Fürsorge um die Gräber: „In Englmar klappt das noch.“ 

„In Englmar klappt das noch recht gut. Die Angehörigen kümmern sich um die Gräber, auch wenn der Friedhof nun nicht mehr im Ortszentrum ist, sondern am Rand liegt“, erzählt mir eine Frau, die gerade das Grab ihrer Schwiegereltern gießt. Früher befand sich der Friedhof in Englmar ganz typisch um die Kirche herum. Dort ist nun nur noch eine Rasenfläche. Ein Stein mit einer Metalltafel erinnert daran, dass der Friedhof 1976 aufgelöst worden ist. Lediglich ein paar wenige herrschaftliche Gräber und Priestergräber an der Kirchhofmauer erinnern noch an den ehemaligen Friedhofsplatz vor der Kirche – ganz in dem Sinne, dass die Gläubigen und die Verstorbenen früher viel enger zusammengehörten. Mittlerweile werden die meisten Friedhöfe ohnehin von den Kommunen betrieben, in deren Aufsichtsbereich gesetzesmäßig auch die Friedwälder fallen.

 

Nicht mehr um die Kirche herum

Friedhof in St. Englmar, Bayerischer Wald

Da Englmar gewachsen ist und um die Kirche herum kein Platz mehr für eine Friedhofserweiterung war, wurde 1976/77 der neue Friedhof erschlossen. Die Auflage dort war von Anbeginn, dass es ein traditioneller, regionaltypischer, zum Bayerischen Wald passender Friedhof sein sollte. Daher sind nur Granitsteine oder gusseiserne Kreuze als Grabmale zugelassen.

Das tut dem Friedhof sichtlich gut: Jeder Stein ist optisch gleich und doch eigens gestaltet. Fast möchte man meinen, die Individualität tritt durch die Einheitlichkeit noch mehr zu Tage. Viele Grabsteine sind dank Steinmetzkunst eine wahre Augenweide und werden durch Blumenschmuck komplettiert.

Urnenwände gibt es auch. Sie befinden sich an einem zentralen Platz mit einem großen Holzkreuz auf dem fast höchsten Punkt des Friedhofs, von dem aus man auf Englmar hinüber- und hinunterschauen kann. „Die Urnengräber im Boden werden allerdings noch nicht angenommen, sie sind noch unbesetzt“, erzählt mir die Frau am Grab ihrer Schwiegereltern von ihren Beobachtungen. Da sei der Ort doch noch zu traditionell aufgestellt. Den Trauerzug vom Ort herauf zum Friedhof gebe es dagegen seit Corona nur mehr ganz selten.

 

„Es hat sich viel verändert in den letzten Jahren.“

Ein Einheimischer, den ich im Ort nach seinen Erfahrungen mit Beerdigungen und der gegenwärtigen Trauerkultur befrage, berichtet, dass es gerade vergangene Woche noch so eine Ausnahme gegeben hätte – mit 500 Leuten. „Wenn Alteingesessene sterben, dann gibt es noch große Beerdigungen. Die Zugezogenen haben kleine Beerdigungen, meist nur mit Requiem in der Kirche und Beerdigung am Friedhof in aller Stille.“ Und, so fügt er, etwas wehmütig, hinzu: „Es hat sich viel verändert in den letzten Jahren. Alles ist viel schnelllebiger geworden. Was früher in 50 Jahren passiert ist, passiert jetzt in 20 Jahren oder in nurmehr fünf.“

 

Große Zäsur bei der Bestattungs- und Trauerkultur durch Corona

Kleine Engelskulptur am Dreifaltigkeitsbergfriedhof, Regensburg

Viele, die mit Bestattungen zu tun haben, sehen auch Corona als ‚Brandbeschleuniger‘. So habe Corona die Trauergesellschaften damals auflagenmäßig dezimiert. Das sei nach den Auflagen geblieben. Die Leute wollen augenscheinlich in ihrer Trauer unter sich bleiben. Alles soll mit so wenig Aufwand wie möglich verbunden sein. Reiner Sörries sieht die den Tod betreffenden Interessen der Menschen verlagert „von einer Fürsorge für die Toten auf eine Fürsorge für Sterbende“: „Die Autonomie des Menschen in allen Fragen, die sein Leben, sein Sterben und seinen Tod betreffen, wird zu einem Schlüsselbegriff auch für das Verhalten bei der Bestattung des Verstorbenen.“ Die Angehörigen behandeln den Verstorbenen spezifischer.

 

Bewusste Entscheidungen

Auch von Trauerrednern fühlen sich manche Leute heute persönlicher betreut als innerhalb eines vorgegebenen liturgischen Ablaufs im Gottesdienst. Der ehemalige Waldkirchener Pfarrer und „Trauerwald“-Gründer Anton Aschenbrenner, der seit mehr als zwei Jahrzehnten ein gefragter Trauerredner ist, stellt fest, dass die Kirche die Menschen immer weniger erreichen könne.

Die Leute wüssten demzufolge genau, was sie wollen und tun – oder eben nicht wollen –und setzten sich mehr mit dem Tod auseinander. „Die Hälfte hat zu Lebzeiten eine Bestattungsvorsorge getroffen“, weiß Aschenbrenner. Obwohl gleichzeitig der Tod aus dem Leben verdrängt wird, wenn beispielsweise Tote nicht mehr lange zu Hause aufgebahrt oder Friedhöfe als unangenehme Orte empfunden werden.

 

Keine große ‚Leich‘ mehr

Gefeiert werden soll eher das Leben, im Hier und Jetzt. Auch der Kostenfaktor spielt mit hinein – bei Grab wie Trauerfeier. Manche Verstorbene wollen bei ihrer Beerdigung nur noch ein zwangloses Zusammenkommen ohne Trauerkleidung, so wie wenn man einmal kurz zum Stammtisch geht. Einen festlichen Charakter mit kirchlichem Zeremoniell haben die meisten Bestattungen verloren. Das macht sich auch beim Leichenschmaus bemerkbar, der früher noch fester Bestandteil der Beerdigung war und zu dem alle Beerdigungsteilnehmer eingeladen waren. In Zeiten, in denen – kulturhistorisch belegt – der Leichenschmaus oft als lustiger galt als eine Hochzeit und der Wirt sich über eine ‚Leich‘ mehr freute als über eine Trauung.

 

Die Bestattungs- und Trauerkultur, ein Spiegelbild der Gesellschaft

Bestattungen um Bäume und Felsen im Waldfriedhof in Regen, Bayerischer Wald

Doch das Negative ist in gewisser Weise auch das Positive. Die Trauer ist individueller geworden und im Pool der Möglichkeiten auch die Bestattung. Gleichzeitig findet eine Kollektivierung in der Individualisierung statt, hat Sörries schon vor mehreren Jahren prognostiziert: „Zu den wichtigsten Grabstättenformen der Zukunft werden sich die Gemeinschaftsgrabstätten entwickeln: Der Einzelne versteht sich wieder als Glied der Gemeinschaft. Für den modernen Global-Player, sei er Geschäftsmann oder Tourist, macht eine konkrete Grabstätte an einem konkreten Ort im Sinne früheren Heimat- oder Familienbezuges keinen Sinn mehr.“

Doch entspricht dies, insbesondere bei anonymen Beisetzungen, auch adäquat immer den Bedürfnissen der trauernden Angehörigen? Ein spirituelles Bedürfnis des Menschen nach Gedenk- und Trauerkultur lässt sich nicht leugnen. Das zeigt sich auch daran, dass Angehörige – auch die, die der Kirche oder Institutionen den Rücken gekehrt haben –Schutz in Ritualen suchen, die denen der kirchlich etablierten recht nahekommen. Bestatter oder Trauerredner treten an die Stelle der Kirche. Der kultische Vollzug an sich bleibt gleich oder ähnlich, da er den Menschen in einer durch die Konfrontation mit der Endlichkeit bedrohlich erscheinenden Wirklichkeit Sicherheit gibt, ist sich die Forschung einig.

 

Liberalisierung und ihre Auswirkung auf die Bestattungs- und Trauerkultur

Tun sich Angehörige daher einen Gefallen, wenn sie nach einer Liberalisierung der Bestattungsgesetze, wie vor einem Monat in Rheinland-Pfalz geschehen, die Urne mit nach Hause nehmen können? Wie viel Wandel kann die Bestattungs- und Trauerkultur vertragen?

Wahrscheinlich ist das tatsächlich mehr denn je die Antwort jedes und jeder Einzelnen. Solange es das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Trauer an einem konkreten Ort gibt, werden die Friedhöfe oder Friedwälder nicht verschwinden. Sind sie doch ohnehin bereits mit dem Wandel der Zeit gegangen und haben sich den Wünschen der Menschen angepasst. Und nicht umsonst gibt es – wertvollerweise – das Wort ‚Totenruhe‘.

 

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