von Franziska Iwanow
Spätestens ab Anfang November freue ich mich jedes Jahr wie ein Kind auf die Adventszeit und Weihnachten. Ich habe große Lust darauf, bei Weihnachtsmusik Adventskränze zu binden, Plätzchen zu backen, zu dekorieren, Adventskalender zu befüllen und Geschenke für meine Liebsten zu finden. Vor meinem inneren Auge sehe ich Lichterglanz, habe den Geruch von Stollen und Bratäpfeln in der Nase, freue mich auf üppiges Essen und kuschlige Familienzeit … Zu meiner Wahrheit gehört aber auch, dass ich schon bei dem Gedanken daran Stressflecken bekomme, weil ich keine Ahnung habe, wann ich das alles in meinem Alltag unterbringen soll. Tatsächlich ist für mich die „stille, besinnliche Zeit“ die mit Abstand stressigste im ganzen Jahr.
Nicht nur der zeitliche Druck durch die vielen zusätzlichen, an sich total schönen Aufgaben nehmen mir die Luft. Auch die finanzielle Belastung, familiäre Spannungen, Perfektionsansprüche und völlig überhöhte Erwartungen trüben das idyllische Bild der Weihnachtszeit. In meiner Praxis ist der Dezember der arbeitsreichste Monat, weil es erstaunlich vielen Menschen so geht und sie sich Unterstützung wünschen. Von allen Seiten blicken uns auf Werbeplakaten und in den Sozialen Medien harmonische, entspannte Familien entgegen. Kinderaugen strahlen, die Tische sind reich gedeckt, Geschenkeshopping ist ein rundum erfüllendes Erlebnis, alle haben sich lieb und verstehen sich prächtig. Diese Bilder erzeugen nicht nur Erwartungen, die kaum zu erfüllen sind. Sie bilden auch die Realität sehr vieler Mitmenschen nicht ab und lassen schnell vergessen, um welche Werte es an Weihnachten geht.
Für sehr viele Menschen ist Weihnachten eine emotionale Herausforderung
Für viele sehen die Weihnachtstage ganz anders aus. Und das sind nicht wenige:
- für diejenigen unter uns, die Verluste erlitten haben und die Abwesenheit des geliebten Menschen an den Feiertagen besonders spüren. In Erinnerung an vergangene gemeinsame Stunden wiegt die Trauer häufig besonders schwer.
- frisch getrennte, geschiedene Menschen, die sich nicht nur von der Beziehung, sondern auch von der Vorstellung gemeinsamer Stunden unter dem Weihnachtsbaum verabschieden müssen. Sind Kinder beteiligt, schmerzt das Bewusstsein der zerbrochenen Familie an Feiertagen besonders.
- Menschen, die sich einsam fühlen, vor allem dann, wenn scheinbar alle anderen mit ihren Lieben zusammensitzen. Senior*innen, die niemanden mehr haben. Menschen, die unfreiwillig Single sind und sich gerade an familiären Festen Nähe wünschen. Menschen, die keine Familie mehr haben.
- Erkrankte, die die Feiertage weit weg von ihren Lieben in Kliniken verbringen müssen.
- Töchter und Söhne, Geschwister oder Eltern, die sich einen innigen Kontakt zu ihrer Familie wünschen. Vielleicht besteht gar kein Kontakt mehr oder es ist so schwierig, dass jede Zusammenkunft konfliktgeladen und belastet ist. Statt harmonische Feiertage miteinander zu verbringen, gibt es Spannungen, Unverständnis und Streit.
- Menschen in finanzieller Not, die sich dem Konsumdruck selbst dann nicht beugen könnten, wenn sie es wollten. Vor allem alleinerziehende Eltern, die ein festliches Weihnachtsfest gestalten und Wünsche erfüllen möchten, aber die Möglichkeiten nicht haben.
- Psychisch Erkrankte, zum Beispiel Menschen mit Depression, deren Symptome schlimmer werden können, wenn sie an Feiertagen den verstärkten Druck verspüren, glücklich sein zu müssen. Oder Menschen mit Angststörungen, für die soziale Verpflichtungen zu viel sein können.
- Menschen, die die Gesellschaft am Laufen halten und arbeiten, während andere feiern.
- Leute, die weit weg von Zuhause oder kein Zuhause haben und obdachlos sind.
Weihnachten macht oft schmerzhaft deutlich, was nicht gut läuft
Diese Aufzählung ist mit Sicherheit nicht vollzählig, will aber den Blick dafür öffnen, dass für wirklich sehr viele Mitmenschen die Realität der Feiertage nicht den idealisierten Erwartungen und Versprechungen entspricht. Manche befinden sich gerade in schwierigen Lebensumständen, andere kämpfen mit vergangenen Erfahrungen. Wieder andere machen sich das Leben durch Perfektionismus und eigene überhöhte Erwartungen schwer. Im besten Fall führt dieses Wissen zu mehr Verständnis, Geduld, Mitgefühl, gegenseitiger Unterstützung, offenen Ohren und offenen Türen.
Für uns selbst haben wir wie so oft die Wahl, ob wir uns daran abarbeiten, unerreichbare Vorstellungen zu erfüllen oder ob es uns gelingt, den Blickwinkel zu verändern. Warum nicht ein Weihnachten so für uns neu erfinden, ohne Zwänge, mit realistischen Erwartungen und so, wie es individuell passt und sich gut anfühlt?
Vielleicht gelingt so ein angenehmes Weihnachtsfest
Eine der schönen Seiten des Erwachsenseins ist: An gewisse Traditionen ist man nicht mehr verpflichtend gebunden. Wenn zum Beispiel das Verhältnis zur Familie das ganze Jahr über schwierig ist und ihr euch eigentlich nicht leiden könnt, wird es wahrscheinlich nicht plötzlich auf magische Weise anders sein, nur weil Weihnachten ist. Auch wenn sich die Sehnsucht danach an familiären Feiertagen häufig besonders laut meldet.
Kann man sich das eingestehen und mit einem realistischen Blick die Hoffnung auf respektvolle Harmonie in der Kernfamilie ein Stück weit loslassen, ergeben sich neue Möglichkeiten.
Du könntest deine Weihnachtstage mit lieben Freund*innen (deiner Wahlfamilie) verbringen. Oder du machst es dir alleine schön, folgst ausschließlich deinem Rhythmus und machst nur, worauf du Lust hast.
Du kannst den Besuch bei deiner Familie zeitlich kürzen oder für Rückzugsmöglichkeiten sorgen. Oder du gestaltest alles wie immer, machst dir aber bewusst, dass deine Eltern, Geschwister, Kinder sind, wie sie sind. Die gemeinsame Zeit wird zum Übungsfeld, um Grenzen zu setzen, zu dir zu stehen und dich auf das zu konzentrieren, was euch bei allen Unterschieden verbindet.
Rechtzeitig für sich vorsorgen
Wenn du zu den Menschen gehörst, denen die Einsamkeit an Feiertagen schmerzhaft bewusst wird, ruf dir in Erinnerung, dass du mit diesem Gefühl nicht alleine bist. Plane für die Feiertage bewusst Aktivitäten, die dir Freude bereiten. Mach es dir mit voller Absicht besonders schön und sei lieb zu dir! Vielleicht kannst du dir eine eigene Weihnachtstradition oder ein kleines Ritual für dich ausdenken.
Wenn du magst, sieh dich frühzeitig nach Angeboten um, die Gesellschaft bieten. Die Initiative „Wir Weihnachten“ organisiert deutschlandweit Aktionen gegen Einsamkeit, z. B. Nachbarschaftstreffen und Weihnachtsessen. Auch Organisationen wie die Malteser bieten häufig Weihnachtsessen für Alleinstehende an, die zum Austausch einladen.
Das Silbernetz-Telefon hat eine Hotline speziell für ältere Menschen, die an den Feiertagen rund um die Uhr erreichbar ist.
Möglicherweise empfindest du es auch als sinnstiftend, wenn du dich ehrenamtlich engagierst und dem Alleinsein damit begegnest, für andere da zu sein. Es braucht immer Kraft, um selbst die Initiative zu ergreifen. Und doch ist es gut zu wissen, dass es viele bereichernde Möglichkeiten gibt, wenn man sich einmal von der Vorstellung, wie Weihnachten sein sollte“, löst.
Was zählt wirklich an Weihnachten?
Das gilt auch für diejenigen unter uns, die vor allem in der Weihnachtszeit unter begrenztem finanziellen Budget oder Armut leiden. Das lässt sich nicht schönreden und der Wunsch nach mehr Fülle bleibt bestehen. Am Ende zählen eine liebevolle Atmosphäre, echte Zuneigung und gemeinsam verbrachte Zeit doch mehr als teure Geschenke.
Welche Aufmerksamkeiten verbreiten Freude, ohne etwas zu kosten? Wie wäre es zum Beispiel mit einer Liste mit aufrichtigen Komplimenten? „15 Gründe, warum du zu meinen Lieblingsmenschen gehörst.“ Selbstgemachte Rätsel, die zur beschenkten Person passen. Oder eine Foto-Love-Story?
Wenn es das ganze Jahr über nicht perfekt ist, wird es das vermutlich auch an Weihnachten nicht sein. Und das ist völlig okay so, einfach, weil sich das Leben nicht an Werbung und idealisierte Vorstellungen hält.
Wir, jeder und jede für sich, entscheiden, welche Werte wir mit Weihnachten verbinden und welche Bedeutung wir dieser Zeit geben. Weniger vergleichen, weniger Zwänge, weniger Perfektionismus. Die Kunst besteht darin, bewusst Raum zu schaffen (innen und außen) für das, was wirklich zählt. Weihnachten ist nicht, was wir haben, sondern das, was wir daraus machen.
An dem Punkt fasse ich mir an die eigene Nase, verzichte in diesem Jahr darauf, alle Adventskalender selbst zu machen und backe weniger Sorten Plätzchen. Der Deal, den ich mit mir geschlossen habe, ist, die stressige Adventszeit in Kauf zu nehmen. Dafür wird die Woche ab Heilig Abend kompromisslos entspannt. Wir feiern ausschließlich mit Menschen, die wir wirklich gerne um uns haben, verbringen den ersten Weihnachtstag in Jogginghosen mit Reste essen, puzzeln und Heimkino und pfeifen darauf, „was sich gehört“.
Wie auch immer du die Feiertage verbringst, in Gesellschaft oder alleine, arbeitend oder frei, begeistert oder still ergeben: Ich wünsche dir in jedem Fall eine schöne Zeit, in der du so lieb, großzügig und gnädig mit dir selbst wie möglich zu dir bist!
Mehr zu Franziska Iwanow: https://franziska-iwanow.com/
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