von Franziska Iwanow
„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Ab und an muss ich mich mit diesem Spruch innerlich zu mehr Geduld aufrufen – in der Regel begleitet von einem augenrollenden Seufzen. Wir alle wissen: „Geduld ist eine Tugend“, und doch klingt die Aufforderung dazu häufig mehr nach Ermahnung als nach einer Einladung.
Im ersten Moment ist „Geduld brauchen“ für mich ein Synonym für „warten müssen“.
Darauf warten, dass die Ampel auf Grün schaltet oder sich ein Stau auflöst. Warten auf einen Termin beim Facharzt. Warten auf eine wichtige E-Mail. Oder darauf, dass sich das Kind endlich die Schuhe anzieht. Auf die erlösende Stimme eines menschlichen Mitarbeiters nach gefühlten Stunden in der Hotline des Kundendienstes. Warten auf den letzten Schultag und den Beginn des Urlaubs. Ich könnte endlos weitere Beispiele aufzählen…
Geduld ist nicht einfach nur warten. Geduld ist die Fähigkeit, eine Situation auszuhalten, ohne die Nerven zu verlieren. Geduldig sein bedeutet, mit etwas zu leben, das noch nicht so ist, wie wir es uns wünschen. Und trotzdem innerlich ruhig (und vielleicht sogar gut gelaunt) zu bleiben. Sie ist die Kunst, das Unfertige, Unabgeschlossene, das „Noch-Nicht“ willkommen zu heißen. Das Vertrauen darauf, dass manches Zeit braucht – und die Bereitschaft, diese Zeit zu geben.
Warum fällt Geduld so schwer?
Wir sind es heute gewohnt, dass vieles schnell geht. Informationen sind jederzeit abrufbar. Bestellungen werden am nächsten Tag geliefert, Nachrichten oft zeitnah beantwortet, und unser Belohnungssystem ist nur einen Klick von der nächsten Dopaminausschüttung entfernt. Die Welt funktioniert im Sprintmodus, unser Inneres jedoch meistens nicht.
Geduld verlangt ein Innehalten in einer Welt, die ständig ruft: „Schneller! Mehr! Jetzt!“
Das ist herausfordernd. Es heißt, Kontrolle loszulassen in einer Umgebung, die uns ständig suggeriert, dass alles machbar, planbar, optimierbar ist. Geduld ist das Eingeständnis: „Ich kann nicht alles beschleunigen.“ Und das kann zunächst Gefühle von Ohnmacht oder Angst auslösen.
Ungeduld ist also eine Art Schutzmechanismus: Wenn man Wartezeiten oder Unsicherheiten nicht aushalten will oder kann, versucht man, sie zu kontrollieren, zu beschleunigen oder ihnen zu entkommen.
Geduld hingegen ist die Entscheidung, nicht sofort zu bewerten, nicht sofort einzugreifen oder aufzugeben. Sie ist eine aktive innere Haltung, keine bloße Passivität: Ich entscheide mich für Vertrauen – in mich, in andere, in den Lauf der Dinge, in den richtigen Zeitpunkt.
Wann gelingt Geduld ganz leicht?
Wer einem schlafenden Kind beim Atmen zuschaut, wird nicht ungeduldig. Wer einen Hefeteig angesetzt hat, weiß: Man kann ihn nicht zwingen, schneller aufzugehen. Und wer selbst Pflanzen sät oder Gemüse anbaut, freut sich über jeden gewachsenen Zentimeter. Ein Sammler, der jahrelang nach einem bestimmten Stück sucht, empfindet die Geduld als Teil der Freude.
Immer dann, wenn Sinn, Liebe oder Begeisterung im Spiel sind, wird Geduld leicht.
Wenn wir einer Sache mit echter Begeisterung begegnen – sei es ein neues Hobby, eine Freundschaft oder eine Reise –, braucht es selten eine Mahnung zur Geduld.
Warum ist Geduld so wichtig?
Sie lässt uns wachsen. Fast alle wirklich wertvollen Dinge im Leben brauchen Zeit: eine Freundschaft, die sich vertieft. Eine Fähigkeit, die wir Stück für Stück erlernen. Eine Liebe, die stürmische Zeiten übersteht. Geduld lehrt uns, dass der Prozess genauso wertvoll sein kann wie das Ergebnis. Sie bewahrt uns davor, Dinge vorschnell abzubrechen, nur weil der erste Versuch schwer war. Sie schenkt uns Tiefe und Ausdauer. Und sie lehrt uns, dass nicht alles in unserer Kontrolle liegt – und das ist manchmal heilsam.
Geduld schenkt Gelassenheit. Eine innere Ruhe, gerade dann, wenn außen alles drängt. Und am schönsten: Geduld vertieft die Freude. Wer nicht alles sofort haben muss, erlebt das Erreichen eines Ziels viel intensiver.
Wie kann man Geduld lernen?
Wie alles andere … in kleinen Schritten. Zum Beispiel durch bewusstes Verlangsamen:
- In einem ruhigen Moment nicht gleich zum Handy greifen.
- Dem Gegenüber Zeit lassen, seine Gedanken zu Ende zu erzählen.
- Sich erlauben, nicht sofort auf jede Nachricht zu reagieren.
- Vor der Supermarktkasse bewusst die längere Schlange wählen.
- Die Treppe statt des Aufzugs nehmen, auch wenn das länger dauert.
- Einen langen Spaziergang machen – ganz ohne Ziel.
Wir können atmen, wenn es eng in der Brust wird. Oft signalisiert zuerst der Körper Ungeduld – flacher Atem, angespannte Schultern, zusammengebissene Zähne. Ein bewusster, tiefer Atemzug hilft, sich wieder zu entspannen.
Wir können den Blick weiten. Geduld wächst leichter, wenn wir einen größeren Zusammenhang sehen: Was entsteht gerade in meinem Leben – nicht heute, sondern auf lange Sicht?
Und wir können bewusst innehalten, statt jedem Reflex sofort nachzugeben: „Ich muss das jetzt sofort lösen …“ Muss ich das wirklich? Ganz wichtig: sich selbst mit Nachsicht begegnen!
Geduld lernen heißt auch, sich selbst zu erlauben, nicht sofort perfekt geduldig zu sein. Auch Geduld wächst langsam. Manchmal hilft es, sich abends zu fragen: Was durfte heute wachsen, weil ich nicht gehetzt habe?
Doch auch Ungeduld hat ihren Wert.
Manchmal ist Ungeduld ein inneres Signal. Sie zeigt uns, dass etwas wirklich wichtig ist. Dass etwas nicht mehr passt. Dass wir aufhören sollten, auf Veränderung zu warten und anfangen sollten zu handeln. Dass es an der Zeit ist, etwas anzustoßen, statt auf bessere Umstände zu hoffen.
Ungeduld kann der Impuls sein, Dinge zu verändern, die überfällig sind: Sie treibt uns an, aus ungesunden Beziehungen auszubrechen, ungerechte Zustände nicht einfach hinzunehmen, neue Wege zu suchen. Sie wird dann zum Motor – nicht zum Stolperstein.
Vorausgesetzt, wir hören ihr gut zu, statt uns von ihr überrennen zu lassen. Die Kunst ist, zu unterscheiden: Wann ist Ungeduld ein Signal für notwendige Veränderung und wann bloß Ausdruck innerer Hast?
Geduld und Ungeduld haben beide ihren Platz.
Wie zwei Pole, zwischen denen wir balancieren können. Geduld ist nicht immer heilig. Manchmal ist sie nervig, unbequem und kostet Nerven. Aber oft rettet sie uns auch den Tag, weil die besten Dinge selten im Eiltempo passieren. Ohne Ungeduld würden wir manche Situationen ergeben ertragen, statt uns für Veränderung einzusetzen. Wie so oft im Leben geht es also nicht darum, eine Eigenschaft zum moralischen Ideal zu erklären.
Viel sinnvoller ist es, sich zu fragen: Was verlangt dieser Moment von mir? Geduld oder Ungeduld? Loslassen oder Aufbrechen? Die lange Wartezeit auf einen Facharzttermin?
Hier ist Ungeduld doch eigentlich ganz angemessen. Sie zeigt, dass die Umstände einer Veränderung bedürfen.
Die Wartezeit an der Ampel oder im Stau? Vielleicht eine Gelegenheit für ein kurzes Date mit sich selbst: lautes Mitsingen des Lieblingssongs, eine kleine Atemübung oder ein kurzer Check-in: Wie geht es mir eigentlich gerade?
Das Warten auf den Urlaubsbeginn? Vielleicht lässt es sich ganz bewusst mit Vorfreude füllen.
Wer Geduld übt, muss also nicht alles gut finden oder aushalten. Nur eines: sich selbst und dem Leben ein bisschen mehr zutrauen.
Podcast-Empfehlung!
Sehr zu empfehlen sind auch die Mutmachgespräche von Franziska: „Geschichten vom Leben und anderen Katastrophen“. Zu Gast bei ihr sind Menschen, die von kleinen und großen Krisen in ihrem Leben berichten und erzählen, was ihnen die Kraft für positive Veränderungen gegeben hat. Unter inzwischen 150 Folgen ist bestimmt die eine oder andere Episode dabei, die man vielleicht gerade selbst gut gebrauchen kann. Hier geht’s zum Stöbern: https://www.podcast.de/podcast/828952/mutmachgespraeche
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Eine Antwort
Der Blackout in Portugal letzten Monat hat meine Fähigkeit, geduldig zu sein, sehr herausgefordert und war gleichzeitig eine wunderbare Übung in radikaler Akzeptanz. Danke für den tollen Artikel!