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10 Tage auf der Straße

Straßenexerzitien bringen dir die Welt auf neue Weise näher
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Straßenimpressionen in Hamburg. Foto: Sabine Spangler

Letztes Jahr besuchte besuchte Sabine Spangler eine Freundin in Berlin, die zu dieser Zeit in der interkulturellen und offenen Jesuitenkommunität in der Naunystraße wohnte, direkt über der Kneipe „Tor zur Hölle“. Auch Christian Herwartz SJ, Arbeiterpriester und Begründer der Straßenexerzitien, lebte und wirkte zu dieser Zeit dort. Als Sabine gefragt wurde, ob sie nicht einmal bei den Straßenexerzitien mitmachen wolle, sagte sie spontan zu. Exerzitien auf der Straße? Bedeuten die normalerweise nicht Rückzug? „Es geht um die innere Aufmerksamkeit, die uns im Alltag so oft abhanden kommt.“

Sabine Spangler führt ein Beispiel an, das sich in Washington D.C. zugetragen hat: Josua Bell, ein gefeierter Star-Geiger, füllt Konzertsäle. Ein Konzert von ihm zahlt kostet leicht an die 100 Dollar Eintritt. Für ein Experiment spielte er kostenlos in einer U-Bahn-Station in Washington D.C. Von über 1.000 Passanten hielten nicht einmal ein Dutzend an, um ihm zu lauschen. Die Einnahmen betrugen am Ende magere 32 US-Dollar (https://www.patrick-hoss.de/2012/02/19/das-geiger-experiment/ ) Seine wunderbare Musik auf der Straße war die gleiche wie in der Abgeschiedenheit des Konzertsaals. „Der Gott in der ‚Abgeschiedenheit‘ ist der gleiche wie der in unserem Alltag, auf der Straße, in der Warteschlange an der Kasse… Einzig unsere Aufmerksamkeit ist unterschiedlich und hängt von Ort und Situation ab.“ Sei es dann nicht sinnvoll, so Sabine Spangler, gerade im Trubel des Alltags eine Haltung innerer Aufmerksamkeit einzuüben, um zum Beispiel die schöne Musik nicht zu verpassen, die es da zu hören gäbe?

Wie laufen Straßenexerzitien ab?

Die Straßenexerzitien sind kostenlos. Die Unterbringung ist sehr einfach. Eine Gruppe besteht aus maximal fünf Personen und wird von zwei Begleitern geführt. Verpflegung und Einkauf organisiert die Gruppe selbst. In eine Büchse gibt jeder einen Geldbetrag fürs Einkaufen. Eine Liste verrät, wer wann für die Zubereitung der Mahlzeiten sorgt.

Der Morgen beginnt mit einem Impuls. Danach macht sich jeder einzeln, ohne Vorrat, mit wenig Geld und ohne Rucksack auf den Weg durch die Straßen Hamburgs. Abends trifft man sich zum Gottesdienst, der nicht unbedingt in einer Kirche, sondern zum Beispiel auch in einem Obdachlosentreff oder Kaufhaus stattfindet. Danach gibt es Abendessen und dann einen gemeinsamen Austausch zu den Geschehnissen untertags auf der Straße.

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Weil´s mich nicht mehr loslässt,

das Abenteuer, die eigene Komfortzone zu verlassen –

meine Strassenexerzitien in Hamburg 2017:
Nicht reden, sondern hingehen.
Nicht für, sondern mit.
Nicht abgrenzen, sondern Brücken bauen
und mit Rosen nach Hause gehen.

Unkosten: 0 Euro. Begegnung: unbezahlbar!

 

Einblicke von Sabine Spangler

Hamburg. Foto: Sabine Spangler

Mein Aufbruch zu den Straßenexerzitien nach Hamburg glich einer Fahrt auf dem Wildwasser, bei der man in letzter Sekunde vor dem Ablegen noch schnell den Fuß auf das Floß bekommt. Zuvor habe ich alle unerledigten Aufgaben in meinem Büro auf das Whiteboard gebannt, um sicherzugehen, dass all das hier bleiben würde. Die Liste erschien mir bedrückend lang.

In Hamburg angekommen, sammelte sich die Gruppe in einem großräumigen Nebengebäude der St. Trinitatis-Kirche in Altona. Die Schlafstätten (Isomatten, Schlafsäcke und zwei Feldbetten) waren schnell hergerichtet. Dass nur drei Waschbecken (keine Duschmöglichkeit) zur Verfügung standen, irritierte mich ab dem Zeitpunkt nicht mehr, als aus der Küche der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee durch den Saal zog.

10 Tage auf „nackten Sohlen“ durch die Straßen Hamburgs:

  • ohne Zwang, etwas erledigen zu müssen
  • ohne Zeitdruck Szenen, Orte, Menschen beobachten können und auf sich wirken lassen
  • sich ohne Erwartungshaltungen beschenken lassen von Ausblicken, Lebensgeschichten, Straßenmusik…
  • ohne am Ende des Tages etwas vorweisen müssen

Der Rosenkavalier unter der Brücke

Irgendwann macht auch die beste Imprägnierung schlapp. Bei einem meiner Streifzüge suchte ich schlussendlich doch Schutz unter einer Brücke, bis der Regen ein wenig nachlassen würde. Ich reihte mich also ein in die Gruppe patschnasser, wartender Passanten.

Mir fiel sofort ein älterer Mann mit einem abgetragenen Anzug auf. Das schlohweiße nasse Haar hing tief in die Stirn und er trug schwer an zwei gut gefüllten Plastiktüten. Diese stellte er an der Wand ab und begann unter der Brücke ein wenig aufzuräumen. Sorgfältig stapelte er herumliegende Matratzen, trug leere Bierflaschen zusammen und stellte sie entlang der Mauer auf – begleitet durch ein unablässiges Gemurmel, das ich nicht verstand. Danach tastete er die Taschen seines Anzugs ab, einigen Wortfetzen nach suchte er nach einem Taschentuch. Ich ging auf den Mann zu und hielt ihm wortlos eine Packung Tempos hin. Es dauerte einen kurzen Moment, dann sah er mich an, nahm die Packung und fing an, mir zu erklären, wie ungelegen ihm dieser Regen jetzt käme. Sein Weg nach Hause sei noch weit, er hätte seine Hühner zu versorgen und käme jetzt nicht weiter.

Ich versuchte, ihn ein wenig aufzumuntern: dass wir sicher nicht lange warten müssten, bis der Regen in Nieseln überginge, und lachte ihn dabei an. Dann begann er, mir zu erzählen – von seinem Leben als Zuchtwart auf einem Bauernhof. Er versorgte und hütete die Schweine, war der Muttersau Hebamme und pflegte Max, den Zuchteber.

Er verstand seine Arbeit und liebte, was er tat. Bis zu dem Tag, an dem der Jungbauer den Hof übernahm, diesen optimierte und von da an alleine mit seinem Sohn bewirtschaftete. Der Zuchtwart hatte ausgedient.

Um seine spärlichen Einkünfte aufzubessern, greift er jetzt auf dem Fischmarkt Inge, der Blumenhändlerin, bei Auf- und Abbau ihres Standes ein wenig unter die Arme. Daneben verdient er sich ein paar Groschen durch den Verkauf frischer Hühnereier. Inge hatte ihm als Dank für seine Hilfe auch ein paar Blumen für sein Zuhause geschenkt. Diese kramte er jetzt aus einer seiner Plastiktüten, hielt sie mir hin und strahlte dabei über das ganze Gesicht. „Das nächste Mal bringe ich für Sie auch ein paar frische Eier mit!“

Da der Regen längst nachgelassen hatte, machten wir uns beide auf den Heimweg. Bevor er um die Ecke verschwand, drehte ich mich noch einmal um und sah ihm nach. Zuhause packte ich die Blumen aus und schnitt sie zu. Einen ganzen Eimer konnte ich mit Rosen füllen. Sie waren von nun an die Zierde in unserer Mitte und blühten bis zum letzten Exerzitientag.

Hamburger Hafen

„Zieh deine Schuhe aus, denn der Ort, an dem du stehst, ist heiliger Boden.“

Lege deine Rolllenbilder ab, wirf deine Berührungsängste über Bord. Auch an einem verregneten Tag auf schmutzigen Straßen kann dir unvermittelt das „Heilige“ begegnen.

Es ist Jahre her, dass mir jemand Rosen schenkte, bis ich den Schweinehirten traf.

 

Kontaktaufnahme/Termine:

https://nacktesohlen.wordpress.com

 

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