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Adipositas: Das sind nicht nur ein paar Pfunde zu viel

15 Prozent der Kinder und Jugendlichen hierzulande sind übergewichtig, 6,3 Prozent adipös. Mit JUMPAKIDS gibt es nun ein Adipositas-Zentrum für junge Menschen – das erste in Deutschland.
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Interview: Isolde Hilt

Übergewicht sind nicht nur ein paar Pfunde zu viel, eine Frage des Aussehens oder der falschen Ernährungsweise. Übergewicht und Adipositas (starkes oder krankhaftes Übergewicht) sind häufig ein Signal für mangelnde Chancengleichheit oder auch eine Folge psychischer Probleme. In Deutschland gibt es an die 1.720.000 übergewichtige und knapp 660.000 adipöse Kinder und Jugendliche. Bei jungen Menschen wirkt sich das besonders fatal aus, werden doch 85 Prozent von ihnen übergewichtige Erwachsene.

Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) hat Übergewicht und Adipositas als die größten Risikofaktoren für Gesundheit und seelisches Wohlergehen im 21. Jahrhundert ausgemacht. Handeln tut not. Vor kurzem hat in der Oberpfalz JUMPAKIDS, das Regensburger Adipositas-Zentrum für Kinder und Jugendliche, seine Arbeit aufgenommen. Die erste Anlaufstelle dieser Art in Deutschland, die neue Wege in der Beratung und Unterstützung geht …

Dorothea Brenninger, Diplom-Oecotrophologin, ist ausgewiesene Expertin für Übergewicht und Adipositas, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Immer schon wollte sie eine Beratungsstelle schaffen, die sich der jungen Menschen besonders annimmt und die Probleme, die sich hinter der „Schutzschicht“ verbergen, anders angeht. Das ist mit Unterstützung der Sanddorf-Stiftung, der AOK Bayern, der Stadt und dem Landkreis Regensburg gelungen. Die Katholische Jugendfürsorge der Diözese Regensburg e. V. hat sich als Träger zur Verfügung gestellt.

„Für eine unbeschwerte Kindheit und Jugend ist es nie zu spät“, weiß Dorothea Brenninger aus Erfahrung. Mit JUMPAKIDS, dem ersten Adipositas-Zentrum für Kinder und Jugendliche in Deutschland, wollen sie und ihr Team neue Maßstäbe setzen und viele andere Kommunen zum Nachahmen anregen.

 

Sie haben sich bereits vor über 15 Jahren auf Kinder und Jugendliche spezialisiert, die übergewichtig oder adipös sind. Da gibt es nicht so viele Expert*innen. Was hat Sie dazu bewogen, sich für junge Menschen einzusetzen?

Ich war lange Zeit in der allgemeinen Ernährungsberatung für eine Krankenkasse und auch in eigener Praxis tätig. Dabei fiel mir auf, dass immer mehr Kinder und Jugendliche mit immer stärkeren Gewichtsproblemen kamen. Ich sah auch die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Eltern. Das heißt, wenn man hier helfen will, kann man nicht nur eine einzelne Person in den Blick nehmen. Die Zusammenhänge und demzufolge die Lösungen sind vielschichtiger: Will man einem betroffenen Kind helfen, muss man immer mit der ganzen Familie arbeiten. Leider musste ich feststellen, dass es hier noch überhaupt keine Lösungsansätze gibt. Übergewichtige Kinder werden im besten Fall auf Kur zum Abnehmen geschickt. Sie kommen zwar schlanker zurück, haben aber in kurzer Zeit dasselbe Gewicht wieder drauf – oder noch mehr.

Tun sich junge Menschen, die zu dick sind, nicht unendlich schwer, zu Ihnen zu kommen? Unsere Gesellschaft pflegt ein Schönheitsideal, das es einem schwer macht, sich ok zu fühlen. Die Scham bei zu viel Gewicht ist sehr groß. Wie schaffen Sie das?

Oft ist einfach der Leidensdruck des Kindes oder auch der Eltern groß genug, um sich bei uns zu melden. Nur der erste Schritt braucht Mut. Nach dem Kennenlernen wissen die Kids und ihre Familien, dass sie bei JUMPAKIDS willkommen sind, so wie sie sind. Dass es bei uns weder Verbote noch den erhobenen Zeigefinger gibt.

Wir bilden ein Team mit der ganzen Familie, um gemeinsam Lösungswege zu finden, damit das Leben, aber auch das Körpergewicht leichter wird. Wir suchen gemeinsam die besten Stellschrauben, an denen man drehen kann, damit die Lebensfreude mehr wird und das Gewicht weniger. Das kann bedeuten, Spaß an gemeinsamem Sport zu entdecken. Viele finden neue Hobbies, pfiffige Rezepte mit Kochspaß und Essensgenuß cool. Außerdem bieten wir an, gemeinsam Ursachen herauszufinden und wie individuelle Lösungen aussehen können.

Hilfreich ist auch, dass uns in unserer Region Kinderärzt*innen und Ärzt*innen inzwischen sehr gut kennen und uns gerne ihre Patient*innen schicken, weil sie sie bei uns gut aufgehoben wissen.

In der Regel geht ein „Zuviel an Gewicht“ mit einem Zuwenig an anderer Stelle einher.

Aus welchen Gründen nehmen Kinder so zu?

Gründe gibt es sehr viele … In der Regel geht ein „Zuviel an Gewicht“ mit einem Zuwenig an anderer Stelle einher. Das kann ein Mangel an Zugehörigkeit, Chancen, Bildung, Wissen oder auch ein Mangel an Zuwendung, Geborgenheit und Sicherheit sein. Häufig sind familiäre oder kulturelle Belastungen im Hintergrund, Armut, Schicksalsschläge, Krankheiten in der Familie. Wenn ein Kind einen wichtigen Menschen oder die Heimat verliert, sind dies häufig Auslöser.

Bei der aktuellen Lebensmittel- und Getränkeindustrie braucht es ein geschultes und sehr wachsames Auge, um nicht in eine Zucker- und Fettfalle nach der anderen zu tappen. Hinzu kommt, dass es in bestimmten Peergruppen ein Symbol von Dazugehören ist, wenn man zum Beispiel zu Fastfoodketten geht oder Energy-Drinks zu sich nimmt. Bei kleinen Kindern spielt die Familie eine große Rolle, bei den Jugendlichen übernehmen immer mehr Gleichaltrige diese Aufgabe.

Das heißt, es geht nicht nur um ein paar Pfunde zu viel. Diese jungen Menschen sind zugleich immer auch ein Spiegel, was in unserer Gesellschaft nicht so optimal läuft … Die Unterstützung muss vielfältig sein, oder?

Übergewichtige Kinder, Jugendliche und ihre Familien beim „Leichter-Werden“ zu unterstützen, bedeutet, Fürsorge zu geben, zuzuhören, sich Zeit zu nehmen, zu begleiten, über einen längeren Zeitraum da zu sein, Chancen zu geben und „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Es geht darum, Kinder und Familien stark zu machen, damit sie es selbst schaffen. Das ist im Prinzip das, was in einer sehr wirtschaftlich geprägten Gesellschaft oft zu kurz kommt. Je weniger die Gesellschaft ihre Fürsorgepflichten für Kinder und Jugendliche ernst nimmt, umso mehr werden wir übergewichtige Kinder haben.

Adipositas, das sind nicht nur ein paar Pfunde zu viel. Übergewicht ist ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko. Wie sieht das aus?

Übergewicht und ungünstige Ess- und Trinkgewohnheiten führen auf Dauer zu Zuckerstoffwechsel- und Fettstoffwechselproblemen. Dies belastet unser Herz-Kreislauf-System enorm und ist Hauptursache für Durchblutungsstörungen, Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes und Lebererkrankungen. Aber auch Gelenkerkrankungen sind eine häufige Folge aufgrund der schweren Last. Die medizinische Wissenschaft weiß seit Jahren, dass Übergewicht und vor allem Adipositas auch die Entstehung von Krebs fördert.

Kuren für betroffene junge Menschen wirken nicht lange nach. Zuhause im gewohnten Umfeld ist das Gewicht meist schnell wieder drauf. Sie gehen mit Ihrem Team einen anderen Weg. Wie sieht der aus?

Die Familien bleiben in ihrem normalen Alltag und gehen gemeinsam erste kleine neue Schritte, probieren neues Ess- und Trinkverhalten aus, finden ihren Sport oder treten einem Verein bei. Das JUMPAKIDS-Team ist kontinuierlich da, lobt, gibt Feedback, hilft bei Rückfällen, findet gemeinsam die weiteren Stellschrauben, bietet Events an zum Ausprobieren. Das ist wie bei einer Zwiebel, die man Schicht für Schicht schält, um an den Kern zu kommen.

Erfolge können zum Beispiel mehr Selbstbewusstsein, Zufriedenheit, Lebensfreude, mehr Spaß an Bewegung, neuen Rezeptideen, mehr Zusammenhalt in der Familie sein.

Sie können bestimmt auch über Erfolge berichten. Haben Sie da ein oder zwei Beispiele?

Fast jedes Kind und jeder Jugendliche hat Erfolge. Erfolge können dabei sehr unterschiedlich sein, zum Beispiel mehr Selbstbewusstsein, mehr Zufriedenheit, Lebensfreude, mehr Spaß an Bewegung, Lust an neuen Rezeptideen, mehr Zusammenhalt in der Familie. Natürlich ist es auch ein Erfolg, wenn sich Ess- und Trinkgewohnheiten ändern, weniger Zucker aufgenommen, mehr frisch gekocht wird und die Familie gemeinsam genießt.

Die meisten verlieren auch Kilos bzw. sie gewinnen Zentimeter bei gleichbleibendem Gewicht, was einer Gewichtsabnahme gleichkommt. Man kann sagen, jeder gewachsene Zentimeter bedeutet bei gleichbleibendem Gewicht in etwa 1 kg Gewichtsabnahme. Viele werden einfach auch fitter, bauen Muskeln auf, können andere Klamotten anziehen, bauchfrei gehen oder fühlen sich im Kleid wieder wohl. Jede*r entwickelt neue Fähigkeiten, um das Problem hinter sich zu lassen.

Mit JUMPAKIDS ist in der Regensburger Region ein Adipositas-Zentrum für Kinder und Jugendliche entstanden, das so in Deutschland einmalig ist. Was zeichnet diese neue Beratungsstelle besonders aus?

Einmalig ist, dass es ein Zentrum gibt! Wir sind eine Anlaufstelle mit fachkundiger Besetzung, die man leicht und ungezwungen aufsuchen kann. An uns kann sich jedes Kind, jeder Jugendliche, jeder junge Erwachsene und auch Eltern wenden.

Gleichzeitig ist JUMPAKIDS eine Stelle, die alle Akteure des Kindeswohls vernetzt und auch Hilfe in die Lebenswelten der Kinder bringt – sei es in Schulen, Horten oder Kindergärten. Wir beraten auch Lehrer*innen und Erzieher*innen und stellen Infomaterial zur Verfügung.

Drei Jahre haben Sie Zeit, das Modellprojekt zum Erfolg zu führen. Was wünschen Sie sich am meisten?

Ich wünsche mir, dass sich diese Aufbauarbeit lohnt, dass es weitergeht und das Regensburger Modell auch für andere Kommunen wegweisend ist. Denn bei 15 Prozent übergewichtigen Kindern in ganz Deutschland braucht es dringend wirksame Lösungen, damit aus übergewichtigen Kindern nicht übergewichtige Erwachsene mit gesundheitlichen und seelischen Leiden werden, die vermeidbar sind. Ich wünsche mir, dass das Projekt angenommen und von allen Seiten unterstützt wird. Gemeinsam können wir sehr viel bewirken und zu einer gesünderen Gesellschaft beitragen.

 

Weitere Infos gibt es hier: www.jumpakids.de

 

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