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Arbeiten im Kollektiv: Zu Unrecht in Vergessenheit geraten?

In den frühen 80er Jahren gründeten sich deutschlandweit kollektiv geführte Betriebe. Reinhold Huber war Mitglied in einem solchen Kollektiv und hat uns erzählt, wie es für ihn war.
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von Kristin Frauenhoffer

Foto: privat

Reinhold Huber ist ein Mann, der etwas zu erzählen hat. Als Anhänger der Ideen der 68er-Generation hatte er mit 20 Jahren nicht weniger als die Revolution im Sinn. Die Revolution gegen den „Muff von 1.000 Jahren unter den Talaren“. So stand es 1967 auf einem Transparent einer Studentenvereinigung der Universität Hamburg. Und genauso fühlte sich die Jugend von Reinhold und seinen Freunden in der bayerischen Stadt Weiden an. Gegen die Eltern und andere Autoritäten zu rebellieren, etwas ganz Neues zu starten und so das gesellschaftliche System umzubauen, war für sie eine Aufgabe, für die sie brannten.

1979 begann das Experiment „Kartenhaus Kollektiv“.

Reinhold startete gemeinsam mit fünf anderen ein Experiment. Sie wollten eine neue Form des Arbeitens und Lebens erproben und gründeten 1979 ein Kollektiv – das Kartenhaus Kollektiv. In einem Kollektiv zu arbeiten bedeutet, einen Betrieb oder ein Unternehmen gemeinsam mit allen Beteiligten zu organisieren. Es gibt keinen Chef oder Chefin. „Das heißt geteilte Verantwortung, aber auch geteiltes Risiko“, erklärt Reinhold im Interview mit good news for you. Was die sechs Freund*innen, die sich aus einem Weidener Jugendzentrum kannten, herausfinden wollten, war, ob eine basisdemokratische Organisation funktionieren kann.

Kontrolle über die Produktionsmittel erlangen, war das Ziel.

Die erste Idee war, einen Verlag zu gründen, um eigenständig Bücher herausgeben zu können. Da sich das aber als sehr aufwändig und vor allem teuer erwies, wurde das Kartenhaus Kollektiv relativ schnell in eine Druckerei umgewandelt. Warum gerade eine Druckerei? „Das ist einfach zu erklären“, sagt Reinhold. „Es ging uns darum, Kontrolle über die Produktionsmittel zu erlangen. Und damals waren Printmedien sehr mächtig. Wenn man in der Lage war, seine eigenen Produkte zu drucken, konnte man seine Meinung sehr schnell verbreiten und unterlag keinerlei Zensur.“

Dazu muss vielleicht angemerkt werden, dass es zu dieser Zeit – Anfang der 80er Jahre – vor allem in Bayern noch sehr konservativ zuging. Der bayerische Kabarettist Sigi Zimmerschmied hat einmal aus einer von ihm erlebten Episode einen Sketch verfasst, der es gut auf den Punkt bringt. In diesem geht er in eine Druckerei in Passau und fragt nach, ob er einige Flugblätter drucken lassen könne. Der Druckereibetreiber bejaht das vollmundig und lacht sogar über diesen kleinen, unbedeutenden Auftrag. Als er dann aber die Flugblätter sieht und feststellt, dass es sich um Propaganda gegen die Kirche handelt, wiegelt er schnellstens ab und sagt: „Da steht ja was gegen den Pfarrer drin, das können wir nicht drucken. Ich habe gerade noch die Beichtzettel in der Maschine.“

„Wir wollten mit unserem Projekt ein Teil des Aufbruchs in eine neue, bessere Welt sein.“

Das also war die Ausgangssituation für die Entstehung der Druckerei des Kartenhaus Kollektivs. Da die Gründer*innen eine linke politische Einstellung hatten, wurden anfangs dann auch hauptsächlich linke Flugblätter gedruckt. Die Ziele, die die jungen Menschen verfolgten, waren vor allem gesellschaftlicher Natur. „Wir wollten mit unserem Projekt ein Teil des Aufbruchs in eine neue, bessere Welt sein“, beschreibt Reinhold die Motivation, die die Gruppe antrieb. Diese neue Welt sollte gleichberechtigter und nicht-diskriminierend sein, Minderheiten schützen und jeder Person ein Vetorecht gewähren.

So war auch das von Reinhold und seinen Freund*innen gegründete Kartenhaus Kollektiv organisiert. Die Gründungsmitglieder waren drei Männer und drei Frauen. Jede*r bekam den gleichen Lohn, alle arbeiteten rotierend an den gleichen Positionen. Alle sechs Wochen wurde getauscht. „Das hat sich allerdings im Laufe der Zeit als nicht so alltagstauglich erwiesen. Schließlich sollte doch jede*r genau das machen, was ihm oder ihr liegt“, gibt Reinhold zu. Und so wurde im Konsens beschlossen, wer welche Aufgabe übernehmen sollte, und alle waren glücklich. Tatsächlich wählte jedes Kollektivmitglied einen anderen Bereich und so erübrigten sich sogar Diskussionen.

In 40 Jahren kein einziges Veto

Was Diskussionen und Entscheidungsfindung betrifft, mögen sich Außenstehende fragen, muss es doch in einem Kollektiv ziemlich mühsam zugehen. Schließlich erfordert eine basisdemokratische Organisation, dass wirklich jedes Mitglied Entscheidungen zustimmt. Nur eine Veto-Stimme kann ein komplettes Vorhaben kippen. „Tatsächlich haben wir alles bis auf den Grund ausdiskutiert, aber es gab in 40 Jahren kein einziges Veto“, sagt Reinhold stolz. „Wir wurden immer als Chaoten bezeichnet, weil es keinen ‚Anführer‘ gab, aber es hat all die Jahre prima funktioniert.“

Und das nicht nur beim Arbeiten: Die Mitglieder des Kollektivs führten nicht nur die Druckerei gemeinsam, sie lebten auch zusammen – nach dem Motto: Arbeitszeit ist Lebenszeit. Die Druckerei und die Wohnräume befanden sich in einem alten Bauernhof außerhalb von Regensburg. So wurden nicht nur Produktionsmittel, sondern auch Bad, Küche und vor allem Geld geteilt. Reinhold beschreibt diese Zeit als die beste seines Lebens. Harmonisch und respektvoll sei man sich begegnet, Unstimmigkeiten wurden schnell aus der Welt gebracht.

Konstruktiv streiten und gemeinsam Lösungen finden

Er habe in dieser Zeit viel gelernt, sagt Reinhold. Zum Beispiel, dass man für das gemeinsame Ganze auch einmal persönliche Bedürfnisse hintanstellt. Dass man bei Meinungsverschiedenheiten konstruktiv miteinander streiten kann und gemeinsam immer eine Lösung findet. „Wenn ich mit meinem Latein am Ende war, haben wir oft in der Diskussion doch einen Weg gefunden. Ich habe mich mit Problemen nie allein gelassen gefühlt“, sagt der heute 65-Jährige. Das sei es auch, was ihn immer motiviert habe, weiterzumachen: das starke Gemeinschaftsgefühl. „Jede*r von uns hat sein Bestes gegeben. Wir waren eigentlich nie verzagt und hatten immer einen gemeinsamen Plan.“

Das Kartenhaus Kollektiv musste schließen, das Experiment ist dennoch gelungen.

Leider hat das Kartenhaus Kollektiv Ende 2019 seine Türen geschlossen. Wie so viele Kollektive dieser Art, die alle in den frühen 80er Jahren gegründet worden sind. Das Experiment ist damit beendet. Ist es aber auch gescheitert? „Ich würde sagen, nein“, fasst es Reinhold zusammen. „Wir waren sehr erfolgreich mit unserer Art der Zusammenarbeit. Wir haben uns von Jahr zu Jahr in Bezug auf Qualität und Zufriedenheit unserer Kunden verbessert. Und unter uns herrschte immer eine gute Atmosphäre und wir konnten alle gut leben.“

Er führt das Aussterben dieser Unternehmensform eher auf den fehlenden Nachwuchs zurück. Viele wollten keine Verantwortung mittragen. Dabei sei genau das die beste Motivation für die Arbeit. „Wenn ich für meine eigene Firma arbeite, dann gebe ich doch immer mein Bestes“, so Reinhold. Und anders als ein Selbstständiger hat ein Mitglied eines Kollektivs nie die alleinige Verantwortung. Reinhold fügt hinzu: „Bei uns konnte man sogar ein Sabbatical machen. Als Selbstständiger kannst du nicht mal länger in den Urlaub.“ Sein Fazit fällt deshalb eindeutig aus: „Ich würde es immer wieder machen, auch heute noch.“

 

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