von Kristin Frauenhoffer
Manchmal erleben wir in unserem Leben etwas, das uns für immer verändert. Eine Situation, die so markant ist, dass wir sie rückblickend als Wendepunkt bezeichnen können. Oder sogar den Beginn eines zweiten Lebens. So zumindest nennt Ramesh Paliwal jenen Tag im Jahr 2006, als er am Bahnhof von Jaipur in Indien einen kleinen Jungen namens Sunil trifft.
Das Schicksal eines kleinen Jungen als Initialzündung für TAABAR
„Sunil war von seiner Familie in Neu-Delhi weggelaufen, um Geld für sich und seine Familie zu verdienen“, erklärt Ramesh. Doch statt Geld zu verdienen, wurde Sunil auf einer öffentlichen Toilette von einem Mann missbraucht. Ramesh half dem Jungen, indem er ihn ins Krankenhaus brachte und ihm vor allem psychologische Unterstützung gab, um die Situation zu bewältigen. Sunil war so verzweifelt, dass er sterben wollte. Es war ein Wendepunkt in Rameshs Leben. Und es war die Initialzündung für eine Idee, die ein Jahr später in der Gründung des Vereins TAABAR gipfelte.
Die Mission des Vereins: Vernachlässigten und unterprivilegierten Kindern Unterkunft, Essen und Bildung zu geben
Ramesh, der einen Master-Abschluss in Sozialarbeit und Soziologie und eine Psychotherapie-Ausbildung hat, begann, mit den Kindern zu sprechen, die an diesem Bahnhof in Jaipur leben. In Indien ist es ein sehr verbreitetes Problem, dass Straßenkinder an Bahnhöfen leben und Flaschen oder andere Gegenstände sammeln, um sie weiterzuverkaufen. Diese schutzlosen Kinder sind oft gefährdet, Opfer von sexuellem Missbrauch und Drogenhandel zu werden. So gründete Ramesh 2007 schließlich seinen Verein namens „TAABAR“. Das bedeutet im lokalen Marwari-Dialekt „kleines Kind, das Fürsorge braucht“. Seine Mission ist es, diesen Kindern zu helfen, ihnen Unterkunft, Essen und Bildung zu geben. Er begann damit, eine Notunterkunft für etwa fünf Kinder in der Nähe des Bahnhofs bereitzustellen. Doch die Zahl der betreuten Kinder wuchs sehr schnell.
Am Anfang konnte Ramesh die Kinder nur mit Essen und ein paar Stunden Bildung und Unterhaltung versorgen. „Aber jeden Abend, wenn wir die Kinder zurück zum Bahnhof schicken mussten, brach es uns das Herz“, erinnert sich Ramesh. Also organisierten er und sein Team mit Hilfe der Stadtverwaltung von Jaipur schon bald eine größere Unterkunft, in der Straßenkinder übernachten konnten. Das erste Notunterkunftshaus „Bal Basera“ wurde eröffnet.
Kleine Jungen im Alter von 5 bis 15 Jahren arbeiten 18 Stunden in Fabriken
Heute ist Bal Basera eine von vielen Betreuungseinrichtungen für Kinder von TAABAR. Doch während Bal Basera für die kurzfristige Betreuung genutzt wird, dient eine weitere als dauerhaftes Zuhause für jene Kinder, deren Familien nicht auffindbar sind. Generell ist es nämlich das Ziel von TAABAR, Kinder wieder mit ihren Eltern zu vereinen. Denn viele dieser Kinder laufen nicht wegen der Gewalt in ihren Familien weg. Sie laufen weg, weil sie für sich und ihren Familien ein besseres Leben schaffen wollen, indem sie Geld verdienen.
Manche Kinder werden sogar von ihren Eltern in Fabriken geschickt, weil ihnen versprochen wurde, dass sie dort eine Ausbildung erhalten und ein paar Stunden am Tag arbeiten. Das Geld könnten sie dann zu den Familien nach Hause schicken. In Wirklichkeit gehen sie weder zur Schule noch erhalten sie Geld für ihre Arbeit. Stattdessen arbeiten vor allem kleine Jungen im Alter zwischen 5 und 15 Jahren 14 bis 18 Stunden in Fabriken. Deshalb nimmt TAABAR Kinder auf, die bei Polizeirazzien in Jaipur aus Fabriken gerettet wurden.
Eine mobile Klinik, ein Bibliothekswagen und ein Berufsausbildungszentrum
„Ich möchte ein Bewusstsein für die Situation dieser Kinder schaffen. Mein Traum ist der Aufbau einer freien, fürsorglichen und fairen Gesellschaft mit Zugang zu Chancen und einem guten Auskommen für alle“, fasst Ramesh seine Mission zusammen. Um diesem Ziel näher zu kommen, hat der Verein seine Tätigkeitsfelder erweitert. Dabei ist es ihnen immer wichtig, an der Basis zu arbeiten. Also dort, wo sie gebraucht werden. Heute bieten sie eine Reihe von lokalen und gemeindebasierten Rehabilitationsprogrammen an, nicht nur für ehemalige Kinderarbeiter*innen und Straßenkinder.
Zum Beispiel haben sie eine mobile Klinik namens „TAABAR’s medical chariot“. Dieser fährt regelmäßig zu Menschen in Slumgebieten, die keinen oder nur begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Im Jahr 2020 hatten sie bis zu 30.000 Patienten. Außerdem errichtete der Verein fünf Kindertagesstätten in der Umgebung von Jaipur für die Vorschulerziehung und die Betreuung nach der Schule. TAABAR betreibt auch ein Frauenausbildungszentrum, in dem junge Frauen eine Berufsausbildung im Nähen und Schneidern erhalten. Ein weiteres Projekt von TAABAR ist der Bibliotheks-Van – ein Bus voller Bücher, der auch ein mobiles Klassenzimmer ist. Er fährt in Gegenden, in denen die Menschen keinen Zugang zu Büchern und Bildung haben.
Das jüngste Projekt: eine Mädchenschule
TAABARs jüngstes Projekt ist eine Schule für Mädchen, die rund 200 Mädchen Schutz und Bildung bietet. „Mein Wunsch ist es, dieses Projekt auszuweiten und den Mädchen die Möglichkeit zu geben, einen Highschool-Abschluss zu machen. Im Moment können sie nur die 8. Klasse abschließen“, erklärt Ramesh. „Diese vollständige Ausbildung wird den Mädchen Berufschancen geben und sie stärken, da sie aus armen Verhältnissen und teilweise unberührbaren Kasten stammen.“ Der Verein plant nun ein neues Schulgebäude für diese Mädchen. Um dieses Projekt zu finanzieren, sucht TAABAR nach finanziellen Unterstützer*innen.
Was vor 15 Jahren mit einem kleinen Jungen begann, ist inzwischen zu einem umfangreichen Netzwerk gewachsen, das diese Kinder auffängt und ihnen Hoffnung und Perspektive gibt. Ramesh fasst es zusammen: „Es ist die sinnvollste Arbeit, die ich je gemacht habe.“
Wollt ihr mehr über TAABAR erfahren? Dann besucht ihre Webseite.
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