von Cosimo Spangler
„Would you live forever, never die, while everything around passes?“ „Würdest du für immer leben und niemals sterben wollen, während alles um dich herum vergeht?“
Diese zehn Worte brannten sich mir ins Gedächtnis, als ich Adrienne Lenker und ihre Band Big Thief letzte Woche live sah. Obwohl die Ballade „Change“ eigentlich die Schönheit menschlicher Liebe beschreibt, blieb mir seit der Live-Performance des Liedes die Vergänglichkeit am meisten hängen … Ich habe über dieses Konzept ewigen Lebens in den letzten Tagen in einem anderen Kontext nachgedacht. Wie wird unser Leben, das der jüngeren Generationen, in Zukunft aussehen? Würden wir überhaupt ewig leben wollen? Der Film „Bigger Than Us“ erzählt von jungen Menschen, die versuchen unsere Zukunft zu retten.
Aktiv werden für mehr Menschlichkeit
Ich glaube, ich spreche für den Großteil meiner Generation, wenn ich zugebe, dass ich frustriert bin. Die Machthaber in unserer Gesellschaft – so scheint es – wollen sich nicht mit den großen Fragen unserer Zeit auseinandersetzen. Ich glaube, der Mangel an Initiative und Veränderung bei den politischen Führern dieser Welt lässt sich durch eine Tatsache erklären: Diese Probleme betreffen sie zum größten Teil einfach nicht. Solange sie selbst sicher sind, können sie ewig leben. So scheinen sie zumindest zu denken. Das bedeutet es, politisch privilegiert zu sein.
Viele junge Aktivist*innen sehen sich mit Kritikern konfrontiert, die ihre privilegierte Position für sich nutzen und kritische Fragen entsprechend ummünzen. „Ihr könnt euch nur über diese Dinge beschweren, weil ihr an einem Ort lebt, an dem ihr die Möglichkeit, die Freiheit und die Zeit dazu habt“, meinen sie … Argumente von Menschen, die sich gegen jede politische Veränderung sträuben, die ihre Privilegien beeinträchtigen könnte. Dabei wäre es äußerst wichtig zu erkennen: Aktivismus wird nicht aus Privilegien geboren. Er entsteht, wenn sich jemand unterdrückt oder existenziell bedroht fühlt.
Ich habe heute das Glück, über eine Geschichte zu sprechen, die den Geist des Aktivismus, des Engagements meiner Generation in der heutigen Zeit erforscht.
„Bigger Than Us“: Eine Geschichte über den Geist des Aktivismus
„Bigger Than Us“ ist ein Dokumentarfilm der französischen Journalistin und Regisseurin Flore Vasseur aus dem Jahr 2021. Er erregte bei den Filmfestspielen in Cannes 2022 internationale Aufmerksamkeit und läuft seit Februar offiziell in deutschen Kinos. Der Film handelt von der indonesischen Jugendaktivistin Melati Wijsen auf ihrer Reise um die Welt. Sie sucht nach Gleichgesinnten für ihre Mission für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit. Während ihrer gesamten Reise verflechten sich die Geschichten der sieben Protagonist*innen und ihrer Vision, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Mit Melatis Hilfe können Zuschauer*innen die Motive, Situationen und Standpunkte der jungen Aktivist*innen miteinander verknüpfen. Und dabei entdecken, was modernen Aktivismus ausmacht.
Eine dieser Wahrheiten offenbart sich bald. Obwohl sich ihre Anliegen stark voneinander unterscheiden, haben die jungen Menschen ähnliche Beweggründe. Der Großteil ihrer Aktionen ist eine Reaktion auf die Ausbeutung und Unterdrückung, die sie als Angehörige bestimmter Minderheiten ertragen mussten. Mohamad, ein syrischer Kriegsflüchtling, setzt sich für die Bildung von Kindern im Libanon ein. Memory, eine junge Frau aus Malawi, kämpft für die Emanzipation und die Rechte der Frauen in ihrem Heimatland. René, ein junger Brasilianer, gründete und verfasst eine unabhängige Zeitung für die Favelas in Rio de Janeiro, um die Informationshoheit der korrupten brasilianischen Regierung zu bekämpfen.
„Bigger Than Us“ zeigt sieben Protagonist*innen, die für die Menschheit kämpfen
Alle sieben Protagonist*innen kämpfen auf ihre Weise und in ihrem eigenen Tempo für bessere Bedingungen. Ihr Aktivismus gründet auf der Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die sie ihr ganzes Leben lang ertragen mussten. Viele von ihnen waren noch Kinder, als sie anfingen, aktiv zu werden. Durch ihre negativen Erfahrungen wissen diese jungen Menschen, dass die Welt niemals besser werden kann, solange wir es zulassen, dass Staatsoberhäupter, Präsidenten und korrupte Regime jene Systeme aufrechterhalten, die Diskriminierung ausüben. Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus dienen ihnen dazu, ihre eigene Macht zu erhalten.
Humanistische Werte bilden den Grundstein für Aktivismus
Durch ihre vielen guten und schlechten Erfahrungen scheinen die Aktivist*innen einen gemeinsamen Wertekanon gefunden zu haben, der die Grundlage für ihre Vision einer integrativen Gesellschaft bildet. Regisseurin Flore Vasseur legt großen Wert auf die Darstellung dieser Werte. Ein Beispiel ist die Bedeutung des freien Zugangs zu Bildung, den viele Minderheiten überall auf der Welt nicht erhalten. Mohamad hat es sich zum Ziel gemacht, Schulen für Flüchtlingskinder zu bauen, um ihnen eine echte Lebensperspektive zu geben. Seiner Meinung nach vergeuden Kinder, die sich wertlos fühlen, ihr Leben. Und das merkt man: Die Kinder gehen gerne zur Schule, lernen neue Dinge, knüpfen neue Kontakte.
Tatsächlich ist Mohamads Schule so erfolgreich, dass seit ihrer Eröffnung kein einziges Kind gefehlt hat. Bilder von Kindern, die glücklich sind, lächeln, sich in jeder Umgebung amüsieren können, sind über den ganzen Film verstreut. Indem die Aktivist*innen den Kindern trotz der Unterdrückung und Diskriminierung, der sie ausgesetzt sind, Chancen geben, rüsten sie sie mit Mitteln aus, um die Früchte ihres unbeugsamen Geistes ernten zu können.
Umweltschutz und Kampf gegen die Zerstörung der Natur
Xiuhtezcatl, ein junger Amerikaner, kämpft gegen die Zerstörung der natürlichen Umwelt und die Ausbeutung der Angehörigen seines Stammes. Er hat eine etwas transzendentere Sicht auf dieses Thema. Die natürliche Verbindung, die wir als Menschen zu unserer Umwelt, zur Natur, zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst haben, motiviert ihn, weiterzumachen. Xiuhtezcatl bringt dieses Gefühl aus seinem indigenen Erbe in seinen Klimaaktivismus ein. Aber um etwas zu bewirken, reicht es nicht aus, das Land nur vor den Ölgesellschaften zu schützen. Es ist notwendig, einen Rahmen für menschliche Interaktion und gegenseitiges Verständnis zu schaffen.
„Bigger Than Us“ zeigt den Kampf zwischen Selbstbehauptung und Zweifel
Es ist nicht leicht, durchzuhalten und weiterzumachen. „Bigger Than Us“ zeigt die Absurdität von Situationen, in denen sich Kinder auf der ganzen Welt behaupten müssen. Zum Beispiel die erschütternden Bilder von 3.000 Familien, die außerhalb von Jakarta buchstäblich auf Müllbergen leben. Es ist schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn das Einzige, das man in jeder Richtung sieht, Tausende von Tonnen Müll sind.
Jede*r der jungen Aktivist*innen hat Zweifel. „Mein Ziel ist es nicht, etwas zu verändern. Ich möchte aber das Gefühl haben, irgendwo dazuzugehören“, sagt Mohamad. Mary, eine junge Freiwillige von Refugee Rescue in Mykonos, drückt es ganz unverblümt aus: „Keiner von uns sollte hier sein.“ Und damit hat sie Recht. Kein junger Mensch sollte sich gezwungen fühlen, seine Jugend zu opfern, um das zu tun, wozu Regierungen nicht in der Lage zu sein scheinen: sich um die Bevölkerung zu kümmern.
Menschlichkeit in Flüchtlingslagern
So wie die sieben Aktivist*innen jeden Tag den Spagat zwischen Zweifel und Resilienz bewältigen müssen, zeigt „Bigger Than Us“ mit seinen Bildern dieses Hin- und Hergerissensein zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Zum Beispiel ist da ein Moment reiner Menschenliebe, als Mary und Melati bei einer Patrouille an der griechischen Küste eine gestrandete Flüchtlingsfamilie aus der Türkei finden und retten. Die Familie ist voller Hoffnung und überglücklich, gefunden worden zu sein. Obwohl sie sich nicht richtig mit dem Rettungsteam verständigen kann, sind alle in diesem Moment voller Liebe und Dankbarkeit.
Dieser Szene folgen augenblicklich Bilder über Moria, dem griechischen Flüchtlingslager, in dem Familien nach ihrer Ankunft in Griechenland jahrelang festsitzen können. „Der Moment, wenn sie wegfahren, ist auch für mich sehr schwer“, sagt Mary aus ihrer Erfahrung mit den vielen Familien, die sie gerettet hat. Der Kampf zwischen Hoffnung und unerbittlicher Realität ist einer, den viele Menschen auf der ganzen Welt jeden Tag aufnehmen müssen.
Der Kampf um Menschlichkeit: eine Herausforderung, die größer ist als man selbst
„Bigger Than Us“ betont oft, dass die jungen Aktivist*innen keine Helden, sondern ganz normale Jugendliche seien. Menschen wie du und ich, die die Welt verändern können. Aber um das zu tun, müssen wir uns jeden Tag eine Frage stellen: Wählen wir Bequemlichkeit oder Menschlichkeit? Sollen wir untergehen oder trotz unserer Ängste auf das Meer hinausfahren?
Menschen wie Melati, Mary oder Mohamad sind Vorbilder, die uns zeigen, dass der Mut und die Liebe, die es braucht, um zu kämpfen, in jedem von uns stecken. Sie zeigen uns, dass wir nicht allein sind. Der Kampf für den Wandel ist nicht zu groß für uns, unsere Stärke kommt aus unserer Gemeinschaft. Es bedeutet, dass wir Verbindungen herstellen, Ideen austauschen und in unserem Kampf für den Wandel laut sein müssen. Bleibt also weiterhin laut, aktiv und kämpft weiter für eure Menschlichkeit. Denn solange wir kämpfen, haben wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
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Den Dokumentarfilm„Bigger Than Us“ gibt es auf Deutsch und Englisch. Produziert wurde er von Oscar®-Preisträgerin Marion Cotillard, die sich seit über 20 Jahren für ökologische und soziale Projekte engagiert: „Als ich Mutter wurde, spürte ich sofort, dass ich von meinen Kindern so viel lernen kann. Die neue Generation entscheidet sich für das Leben und für die Würde des Menschen.“
„Bigger Than Us“ – ausgezeichnet mit dem Prädikat wertvoll – erscheint am 25. Mai 2023 auf DVD und digital auf allen Portalen.
Den Trailer zum Film gibt es hier: Praesens-Film
Cosimo ist ein neunzehnjähriger Anglistik-Student, der über alles, was ihn fasziniert und inspiriert, schreibt. Auf Instagram kann man mehr seiner Texte finden: https://www.instagram.com/moe.archives/
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