von Isolde Hilt
Wir Menschen sind doch ziemliche „Gewohnheitstiere“. In Konfliktsituationen verhalten wir uns meist gleich – in der festen Überzeugung, richtig zu liegen. Eine weitere Eigenschaft, die uns zu eigen ist: Nicht der oder die andere hat Recht, sondern wir. Beschleicht uns das Gefühl oder gar schlechte Gewissen, dass wir an diesem Konflikt vielleicht doch nicht ganz unschuldig sind, weisen wir trotzdem gerne erst einmal alles von uns. Nur, was hilft es einem, am Schluss vermeintlich Recht zu haben, wenn sich in der weiteren zwischenmenschlichen Begegnung nichts ändert und der Wurm drin bleibt? Besonders zwei Erlebnisse haben mich gelehrt, dass sich ein Konflikt manchmal ganz anders lösen lässt.
Spießer, die sollen sich nicht so haben …
Sechs junge Frauen, Strandurlaub in Italien, untergebracht in einem Villaggio, in dem die einzelnen Holzhäuschen eines auf keinen Fall hatten – eine Lärmschutzwand. An einem Abend ging es besonders laut zu, wir waren einfach gut drauf. Heute vermute ich, dass wir das halbe Feriendorf mit unserer Fröhlichkeit beschallt haben. Für unsere nächsten Nachbarn war das alles andere als lustig; sie beschwerten sich am nächsten Tag bei der Verwaltung über uns. Nach der ersten Abwehrreaktion „Solche Spießer, die sollen sich nicht so anstellen …“ folgte dann doch das schlechte Gewissen. Wir entschuldigten uns mit einer großen Flasche Amaro, einem Kräuterlikör aus der Region. Die Reaktion damals hat mich verblüfft: Obwohl wir auch die nächsten Abende nicht wirklich leiser waren, war uns niemand mehr böse …
Aber es ist doch Weihnachten, das Fest der Liebe!
Das zweite Erlebnis dieser Art hat mich nachhaltiger geprägt. Ich hatte mit meinem Partner den Zuschlag für eine heiß begehrte Wohnung erhalten. Wir waren überglücklich, als wir einziehen konnten. Unter uns wohnte schon seit vielen Jahren ein älteres Ehepaar. Wir stellten uns vor – mit dem Wunsch „Auf ein gutes Miteinander!“. Es blieb beim Wunsch: Was wir auch unternahmen, die beiden wurden mit uns nicht warm. Irgendwann hörten wir von anderen aus der Nachbarschaft, dass sie uns ausrichteten. Gegenstände verschwanden aus unserem Keller, so dass wir ihn absperren mussten. Zuerst war ich wütend, dann resigniert … Es tut einfach nicht gut, in einem Haus zu leben, in dem einen andere nicht leiden können.
Und dann hatte ich die Idee, die – wie ich zugeben muss – nicht frei von Schadenfreude war. Zu Weihnachten richtete ich einen Teller an, der mir nie gefallen hatte und eher dem Geschmack der älteren Generation entsprach. „Perfekt“, dachte ich mir, „dann bin ich den auch endlich los“. Mit selbstgebackenen Plätzchen, einem Piccolo und einem Weihnachtsengel drapiert, stellte ich mein Kunstwerk vor die Tür. Mein einziger Gedanke war: „Jetzt bin ich mal gespannt, wie ihr aus der Nummer kommt.“
Und dann war ich beschämt …
Am ersten Weihnachtsfeiertag hatte ich Dienst und wollte gerade das Haus verlassen, als die untere Wohnungstüre aufging. Meine Nachbarin wirkte immer noch fassungslos. Keine Anrede, kein „Guten Morgen“, nur ein: „Warum machen Sie das??“ Ich antwortete ihr, dass doch Weihnachten sei, das Fest der Liebe, und wir ihnen beiden nur schöne Feiertage wünschen wollten. Am Abend stand ein Gegengeschenk vor unserer Tür. Wir haben nie wieder ein böses Wort über uns gehört, auch nicht aus der umliegenden Nachbarschaft. Waffenstillstand, der Konflikt schien beigelegt. Ein Vierteljahr später dann zog das ältere Ehepaar aus.
Erst nach und nach erschloss sich mir, was hinter diesem ablehnenden Verhalten gesteckt hatte. Die Besitzerin lebte weitab in einer anderen Ecke Deutschlands. Die beiden hatten jahrelang in diesem Haus leben können, als sei es ihr eigenes. In all der Zeit hatten sie sich um eine hoch betagte, nahezu blinde Frau gekümmert. Als diese auszog, wurde die Wohnung umfangreich renoviert und erhielt erstmals einen Balkon – ein Lichtschlucker, der dem Ehepaar unten die Sonne nahm, den Blick in den Garten enorm einschränkte und das Wohnzimmer verdunkelte. Dazu zogen mit uns Leute ins Haus, die gleichberechtigt mit ihnen unter einem Dach wohnten. All dies ging mir noch oft durch den Kopf. Wie hätte ich mich wohl an deren Stelle gefühlt?
Mein ursprüngliches „Rachegeschenk“ stellte sich für mich, im nachhinein besehen, als wichtige Lerneinheit heraus. Wie oft ziehe ich Schlüsse und stelle Vermutungen an, unterstelle anderen etwas, nur weil ich es nicht besser weiß. Würde man ein bisschen mehr nachdenken, vor allem auch nachfragen, könnte mancher Konflikt erst gar nicht Fahrt aufnehmen. Folgenden klugen Gedanken, der einem Apachenkrieger zugeschrieben wird, finde ich seither sehr hilfreich: „Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin.“
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