von Gerda Stauner
Der Herbst ist traditionell die Zeit des Loslassens. Bäume lassen ihre Blätter fallen, Pflanzen stellen das Wachstum ein und auch in der Tierwelt wird es wieder stiller und ruhiger. Deshalb passt es irgendwie ganz gut, dass sich gerade jetzt viele junge Menschen aufmachen, um eigene Wege zu gehen. Einige gehen für ein Studium in eine andere Stadt, andere verlassen ihr Elternhaus und fangen anderenorts eine Ausbildung an und wieder andere erkunden gleich die ganze Welt. Das ehemalige Nest, das Elternhaus, wird mit einem Schlag leer und Beziehungen verändern sich. Doch wie schafft man es, seine Kinder mit einem guten Gefühl ziehen zu lassen? Diese Frage stellen sich gerade viele meiner Freund*innen und Bekannten und auch ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, dass aus einer Familie mit Kind ein Paar geworden ist.
Vielleicht hat es die Natur so eingerichtet, dass sich ausgerechnet jetzt im Herbst viele junge Menschen aufmachen, um ihr eigenes Leben zu beginnen. Viele Ausbildungen starten im September, Semesterbeginn an den Hochschulen ist im Oktober und Reisen in den Süden bieten sich mit der Perspektive auf graue Nebeltage hierzulande auch in dieser Jahreszeit an. Die Zwillinge meiner Freundin sind gerade ausgezogen, die Tochter einer anderen Freundin macht in Neuseeland Work and Travel und mein Sohn ist für sein Studium in eine andere Stadt gegangen. Meine Nichte macht seit drei Wochen ein Auslandsjahr in Nizza, Freunde meines Sohnes sind nach Berlin oder Wien gezogen. Dies alles geschah innerhalb der letzten zwei Monate. Seitdem begrüßen wir zurückgebliebenen Eltern uns nur noch mit der Frage, ob der Sohn oder die Tochter den Flug gut überstanden, eine bezahlbare Wohnung gefunden oder nette Arbeitskollegen kennengelernt hat.
Die Kunst des Loslassens
Auf die Frage, wie es mir als hier bleibender Mutter nun gehe, antworte ich gerne, dass das Leben ungerecht ist. Dass einem die Hebamme zwar das Kind nach der Geburt in die Arme legte, dabei aber vergaß zu erwähnen, dass es einen irgendwann auch wieder verlassen würde. Zwanzig Jahre lang ist das eigene Kind immer mehr oder weniger in unserer Nähe, nimmt viel Raum in unseren Gedanken und unserem Leben ein. Und dann, von heute auf morgen, ist Schluss damit. Wenn der Transporter mit den Möbeln ausgeräumt ist, das Flugzeug nach Neuseeland abgehoben hat oder der Zug nach Berlin aus dem Bahnhof fährt, bleibt man als Eltern mit einem Gefühl der Leere zurück. Dann ist die Kunst des Loslassens gefragt.
Nicht weg, nur woanders
Doch wie lässt man los, wenn man jahrelang das Gegenteil gemacht hat? Wenn man über zwei Jahrzehnte damit beschäftigt war, seinem Kind ein sicheres Zuhause, Geborgenheit und Zuwendung zu schenken? Einer Freundin, der ich ein Foto von mir und meinem Sohn von unserem letzten, gemeinsamen Abend schickte, gab den Anstoß für mich, mit dem Loslassen zu beginnen. Ich jammerte und schrieb ihr, ‚Jetzt ist er weg!‘. Von ihr kam nur trocken zurück, ‚Nee, nur woanders.‘
Seitdem versuche ich nicht mehr an den Verlust zu denken, sondern daran, welche neuen Welten sich für meinen Sohn gerade auftun. Die Abenteuer, die alle vor ihm liegen und die er erleben darf. Eine neue Stadt kennenlernen, durch Parks und Wohnviertel schlendern, Stadtzentren und Randbezirke erforschen, neue Nachbarn, Kommiliton*innen und Professor*innen kennenlernen. Ich freue mich für ihn, wenn er mir eine Nachricht schickt und schreibt, wie toll die neue Stadt ist, und wie wohl er sich jetzt schon in seiner Wohnung fühlt. Gleichzeitig erkunde ich neue Räume, die sich für mich auftun.
Loslassen und neuen Lebensabschnitt beginnen
Ich sage mir, dass ich jederzeit in den Zug steigen und nach dreistündiger Fahrt meinen Sohn besuchen kann. Und sei es nur zum Kaffeetrinken. Ich sage mir, dass er nicht aus der Welt ist und sich sicher auch darüber freut, mich wiederzusehen. Natürlich nicht jede Woche und natürlich nicht dann, wenn er gerade plant, mit neuen Freund*innen um die Häuser zu ziehen. Es geht in erster Linie auch gar nicht darum, den Kontakt permanent zu halten, sondern um das Wissen, dass Kontakt möglich ist. Das erleichtert es mir als Mutter ungemein, meinen Sohn gehen zu lassen, weil ich weiß, dass er nicht aus der Welt ist.
Wenn ich nun durch den Park gehe, und bunte Blätter um mich herum durch die Luft tanzen, klopfe ich mir ganz fest auf die Schulter. Genauso wie der Herbst habe ich es geschafft, loszulassen. Der große Lehrmeister hat mir gezeigt, dass ich keine Angst haben muss. Wie auch in der Natur geht nichts wirklich zu Ende. Tatsächlich ist der Beginn eines neuen Lebensabschnitts nichts, vor dem wir uns fürchten müssen. Wir müssen uns nur daran gewöhnen, dass etwas anders ist. Und so gesehen hätten sich unsere Kinder keine bessere Jahreszeit aussuchen können, um uns Eltern zu verlassen. Und sie sind ja nicht wirklich weg. Sie sind nur woanders.
Hier findet ihr 7 Tipps, die beim Loslassen helfen: https://happymindmagazine.de/herbst-yoga-7-tipps-zum-loslassen/
Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt.
Deine Daten werden verschlüsselt übertragen. Deine IP-Adresse wird nicht erhoben.
Infos zum Datenschutz