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Menschenrechte gelten nicht nur für Europäer*innen

Judith Barth, 21 Jahre jung, war Crewmitglied auf einer Mission von Sea-Eye im Mai. Wie es ihr erging und was es bedeutet, Menschenleben zu retten, hat sie in einem Tagebuch festgehalten.
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In einem Punkt sind sich alle, die sich bei Sea-Eye engagieren, einig: Man lässt Menschen nicht ertrinken, um andere von der Flucht abzuschrecken. Judith Barth, gelernte Rettungssanitäterin und in Ausbildung zur Krankenschwester, hatte sich bereits im letzten Jahr beworben, um sich von der Arbeit der Hilfsorganisation selbst ein Bild zu machen. „Menschenrechte gelten nicht nur für Europäer. Das dürfen wir nicht vergessen“, begründet die 21-Jährige ihr Engagement. Nachfolgend stellt sie das Erlebte, das sie in einem Tagebuch festgehalten hat, in Auszügen vor. Der Bericht führt deutlich vor Augen, welch großem Risiko auch die Crew der Seefuchs ausgesetzt war. 

Aufzeichnungen von Judith Barth

 

Dienstag, 15. Mai – Die Crew

Im Basecamp der Sea-Eye angekommen, treffe ich die meisten Mitglieder unserer Crew zum ersten Mal. Wir kochen und essen gemeinsam, verteilen die Aufgaben an Bord und erhalten ein Pre-Briefing, das heißt, wir werden auf belastende Situationen im Bordalltag sowie im Einsatz vorbereitet.

Mittwoch, 16. Mai – Übernahme des Schiffs

Die abgehende Crew übergibt uns das Schiff. Wir beziehen unsere Kojen. Das erste Training steht an. Von der „alten“ Crew verabschieden wir uns mit einem gemeinsamen Abendessen.

Donnerstag, 17. Mai – Einsatztraining

Für den Ernstfall haben wir zwei Beiboote – sogenannte RIBs – an Bord. Mit Hilfe eines Krans lassen wir diese zu Wasser. Wir üben das Ein- und Auskranen im Hafen, damit es auch auf offener See und bei hohem Wellengang klappt. Wie wir alle feststellen, haben wir noch viel zu lernen.

Freitag, 18. Mai – Auslaufen

Wir stehen früh auf, um uns und das Schiff auslaufbereit zu machen. Alles muss gut fixiert an seinem Platz stehen, damit bei Wellengang kein Chaos ausbricht. Das Schiff rollt und stampft gewaltig. Kurz habe ich Sorge zu kentern; unser Kapitän sieht das alles gelassen. Er zeigt mir, wie man das Schiff steuert und auf Kurs hält.

Samstag, 19. Mai – Seekrank

Es hat uns alle erwischt, bis auf den Kapitän.

Sonntag, 20. Mai – Feuerwehrübung

Feuerwehrübung: Über eine Wasserpumpe nutzen wir Seewasser zum Feuerlöschen und Putzen. Wir spritzen – gut gemeint – die Fenster der Brücke ab. Lautstarker Protest! Da ist wohl etwas nicht ganz dicht …

Montag, 21. Mai – Einsatztraining gemeinsam mit der Sea-Watch

Gemeinsam mit der Sea-Watch 3 fahren wir Patrouille im östlichen Gebiet vor Lybien. Wir vereinbaren ein Einsatztraining, üben zu funken und Menschen aus dem Wasser zu retten.

Dienstag, 22. Mai – Hundewache

Um 1:55 Uhr klingelt mein Wecker. Die sogenannte Hundewache geht von 2 bis 5 Uhr morgens. Wir sind in drei Wachteams à drei Leute eingeteilt. Das heißt, Ausschau halten, regelmäßig den Kurs kontrollieren und den Schiffsverkehr im Auge behalten.

Mittwoch, 23. Mai – Das Leben an Bord

In wachfreien Stunden liege ich gerne auf einem Bigpack auf dem Hinterdeck. Darin sind bis zu 50 Schwimmwesten verstaut. Wir kommen oft zusammen, reden über ganz verschiedene, teilweise persönliche, aber auch gesellschaftliche und politische Dinge.

Viele Menschen springen eher ins Wasser, auch wenn sie nicht schwimmen können, bevor sie sich nach Libyen zurückbringen lassen.

Donnerstag, 24. Mai – Spektakuläres Rettungsmanöver

Gegen Mittag Anruf der libyschen Küstenwache. Wir verstehen nicht, was sie uns mitteilen wollen. Sampo, unser Kapitän, kontaktiert die Seenotleitstelle in Rom. Tatsächlich ist ein Notfall gemeldet. Wir erhalten den Auftrag, hinzufahren. Auch die Sea-Watch ist informiert. Zwei Stunden später treffen wir ein. Die Sea-Watch ist bereits vor Ort und hat die Menschen auf dem Gummiboot mit Schwimmwesten ausgestattet. Wir kranen eines unserer RIBs aus und helfen beim Transport der Hilfesuchenden zur Sea-Watch.

Am Horizont taucht ein sich schnell näherndes Schiff auf – die libysche Küstenwache. Aus Erfahrung wissen wir, dass viele Menschen aus den Schlauchbooten dann lieber ins Wasser springen, auch wenn sie nicht schwimmen können. Die meisten ertrinken dabei.

Unser Kapitän steuert die Seefuchs parallel zur Steuerbordseite der Sea-Watch in einem Abstand, der es der libyschen Küstenwache unmöglich macht, die Rettungsaktion zu durchqueren. Zudem fungiert unser Schiff als Sichtschutz.

"God bless you for saving our lifes!"

Freitag, 25. Mai – Notruf!

Eine Einsatz-Meldung, 12,5 Meilen vor der lybischen Küste. Kurz vor 9 Uhr erreichen wir den Einsatzort. Als Funkerin starte ich mit zwei weiteren Crewmitgliedern Richtung Gummiboot. Wir umkreisen das Boot, um uns einen Überblick zu verschaffen. Die Menschen sind unruhig und rufen durcheinander. Es ist schwer, Ruhe zu schaffen und Informationen zu erhalten. Wir übermitteln erste Nachrichten an die Brücke der Seefuchs: 132 Menschen an Bord, darunter sieben Kinder und neun schwangere Frauen.

Das zweite RIB kommt uns zu Hilfe. Sie haben ein Bigpack mit Schwimmwesten dabei, die wir verteilen. Da bemerken wir, dass Wasser in das Boot eindringt. Wir erhalten die Anweisung, die Menschen zu evakuieren. 9 bis 12 Menschen passen auf unser Beiboote, die wir zur Seefuchs bringen. Als wir andocken, ruft uns ein Mann zu: „God bless you for saving our lifes!“ Ein Mann neben ihm bricht in Tränen aus. Auch die Frauen weinen, als wir sie aufnehmen, und halten sich in den Armen.

Versorgung an Bord

An Bord der Seefuchs verteilen wir Wasserflaschen, Rettungsfolien und weiße Kunststoffanzüge, damit sich die Menschen die nasse, salzige Kleidung ausziehen können. Ein neun Monate altes Baby ist auch dabei. Für die Kinder bereiten wir Brei und eine Flasche Babynahrung zu. Unsere Ärzte versorgen Frauen und Männer mit Verätzungen, die durch das Gemisch von Salzwasser und Benzin im Bootsinneren entstanden sind.

Ich merke, wie erschöpft ich bin und ruhe mich kurz aus. Heute gibt es noch einige weitere Seenotrufe. Auch Marineschiffe werden zum Einsatz gerufen. Begleitet von zwei Kriegsschiffen, die selbst gerettete Menschen an Bord haben, machen wir uns auf den Weg Richtung Norden. Ein Schiff der italienischen Küstenwache nimmt uns unsere Gäste gegen Mitternacht ab.

Samstag, 26. Mai – Putztag

Am späten Vormittag eine Einsatzmeldung: 50 Seemeilen westlich von Tripolis entfernt. Nach mehreren Stunden Anfahrt werden wir abbestellt. Die italienische Küstenwache hat den Fall übernommen. Wir machen unser Schiff wieder klar und schrubben die Decks.

Sonntag, 27. Mai – Wieder Menschen in Not

Am Morgen entdecken wir ein völlig überladenes Gummiboot. Die gesamte Crew macht sich einsatzklar. Inzwischen sind wir ein eingespieltes Team. Wir teilen Rettungswesten aus. Das Boot ist so voll, dass die Menschen im vorderen Teil des Boots stehen müssen. Einige Menschen fallen ins Wasser. Gut, dass sie bereits Schwimmwesten tragen. Bis auf einen schaffen es alle zurück ins Schlauchboot. Die Crew des roten RIBs zieht den einen zu sich ins Boot. Unsere Übungseinheiten haben sich gelohnt! Aufgrund des instabilen Zustands des Gummiboots entscheidet der Kapitän, die Menschen an Bord der Seefuchs aufzunehmen. Wir versorgen sie mit allem Notwendigen. Bei manchen von ihnen sind deutliche Spuren von Folter erkennbar. Viele berichten von ihren Erfahrungen in Libyen mit Menschenhandel und Sklaverei.

Wir werden offiziell dazu aufgefordert, eine Straftat zu begehen.

Niemand fühlt sich zuständig

Die Seenotleitstelle in Rom gibt an, für diesen Fall nicht mehr zuständig zu sein und verweist uns an den Flaggenstaat, an die Küstenwache der Niederlande. Der Duty-Officer antwortet uns, wir sollen die Leute nach Libyen zurückbringen. Damit werden wir offiziell aufgefordert, eine Straftat zu begehen. Das internationale Seerecht besagt nämlich, dass aus Seenot Gerettete an einen sicheren Hafen gebracht werden müssen.

Ich zähle die Gäste und frage sie nach ihren Nationalitäten. Mich überrascht, wie freundlich und zuvorkommend die Männer sind. Sie wecken die Schlafenden, um mich in meiner Aufgabe zu unterstützen.

Gegen Abend fordert uns die Seenotleitstelle in Rom auf, die Menschen nach Sizilien zu bringen. Unser Schiff ist für diesen Transport nicht ausgerichtet. Das weiß man in Rom. Ich verstehe die Welt nicht mehr, aber wir haben keine andere Wahl. Zumindest schickt man ein kleines Schiff aus Lampedusa, das Frauen und Kinder übernimmt und uns 10 (!) Decken, Wasser und Nahrung für die übrigen Gäste bringt.

Auch für uns eine absolute Ausnahmesituation

Wir spannen ein Netz um die Reling am Achterdeck, um die Menschen dort vor dem Herunterfallen zu sichern. Zwei Nächte werden wir noch unterwegs sein. Wir informieren unsere Gäste, dass das auch für uns eine absolute Ausnahmesituation ist und wir alle zusammenhalten müssen, um die ca. 40-stündige Fahrt gut zu überstehen.

Montag, 28. Mai – Ein wundersamer Tag

Unsere Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Am späten Nachmittag machen wir – wie am Abend zuvor – Couscous. Etwas anderes haben wir nicht in ausreichender Menge.

Trotz der angespannten Lage helfen alle zusammen. Alle. Unsere Gäste bitten um Müllsäcke und sammeln den Abfall. Sie bringen uns unglaubliche Dankbarkeit entgegen und sind unglaublich friedlich in diesen beengten Verhältnissen. Als gegen Abend die ersten Lichter Siziliens sichtbar werden, fangen einige an, vor Freude zu singen und zu tanzen.

Dienstag, 29. Mai – Porto Empedocle

Aufkommende Unruhe weckt mich. Wir laufen in einen Hafen ein. Wir werden bereits erwartet – von Polizei, Frontex, Hafenarbeitern, Ärzten, Hilfsorganisationen. Beim Abschied wünschen wir unseren Gästen alles Gute.

Nach dem Ablegen der Seefuchs macht sich ungewohnte Leere breit. Wir schrubben das Schiff…

Mittwoch, 30. Mai – Empfang im Hafen

1:00 Uhr morgens: Wir laufen im Hafen von Valetta ein. Schlaftrunken nehme ich ein Jubeln und Singen wahr… Die Crew der Sea-Watch begleitet uns mit einem ihrer Beiboote und empfängt uns an Land mit Glückwünschen und einem kühlen Bier.

Nach wenigen Stunden Schlaf und einem kurzen Frühstück putzen wir ein letztes Mal das Schiff und übergeben es an die nächste Crew.

Donnerstag, 31. Mai – Abschied und Heimflug

PS:

„In den letzten zwei Tagen hatten wir viel Glück. Mit Ausnahme von europäischen Politikern waren alle Kräfte auf unserer Seite und ermöglichten uns eine sichere Fahrt nach Sizilien und eine sichere Heimkehr zu unseren Familien.“

Gorden Isler, Pressesprecher von Sea-Eye, war ebenfalls bei der Mission im Mai dabei.

 

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