von Kristin Frauenhoffer
Wer als Flüchtling in ein fremdes Land kommt, hat vieles aufgegeben: das Leben in der Heimat, Familie, Arbeit, Sicherheit. Man ist auf die Hilfe der Menschen im jeweiligen Aufnahmeland angewiesen. Doch dieses gängige Bild, das wir von Menschen haben, die fliehen mussten, ist häufig sehr einseitig. Denn sie alle tragen einen wertvollen Schatz in sich: ihre Erinnerungen, ihr Wissen und ihre einzigartige Persönlichkeit. Wenn es gelingt, hinter die Bedürfnisse dieser Menschen zu blicken und zu erkennen, was wir von ihnen lernen können, steht einer Begegnung auf Augenhöhe nichts mehr im Wege. Dies ist das Selbstverständnis des Vereins „Über den Tellerrand“, der Räume schafft, in denen sich Menschen verschiedener Kulturen kennenlernen und austauschen können. Das gemeinsame Kochen spielt dabei eine wichtige Rolle.
„Über den Tellerrand“ begann mit einem Kochbuch
Die Ursprungsidee zum Verein entstand 2013 beim Funpreneur-Wettbewerb der Freien Universität Berlin. Bei diesem Gründungswettbewerb haben Studierende die Möglichkeit, eigene Geschäftsideen zu testen. Dabei hatten vier junge Leute die Idee, ein Kochbuch zu erstellen, gefüllt mit Originalrezepten aus der Heimat von Flüchtlingen in Deutschland. Dazu nahmen sie Kontakt zu Flüchtlingsunterkünften in Berlin auf und kochten gemeinsam mit den Bewohner*innen Gerichte aus deren Heimat. Sie stießen auf reges Interesse und viele herzliche Menschen, die sehr gern ihr Wissen teilten.
Das gemeinsame Interesse steht im Vordergrund: Das Gespräch entwickelt sich nebenbei
Dabei bemerkten sie, dass dieser Austausch auf Augenhöhe allen Beteiligten gut tat. Asylsuchende waren nicht mehr nur „Opfer“ und Studierende keine „Retter“. Im Gegenteil: Die vier jungen Menschen lernten enorm viel – nicht nur über das Essen, sondern auch über das Leben, die Vergangenheit und die Fluchtgründe ihrer Kochpartner*innen. Sie stellten fest, dass ein Kennenlernen im Rahmen gemeinsamer Interessen besonders intensiv ist, denn es ist leichter, sich zu öffnen, wenn sich das Gespräch eher nebenbei entwickelt. Und wenn man vorher Gemeinsamkeiten gefunden hat. Das baut einerseits Vorurteile ab und schafft andererseits Nähe. Diese Nähe begünstigt dann den Aufbau nachhaltiger Freundschaften. „Ich habe schon oft mitbekommen, dass sich Menschen bei ‚Über den Tellerrand‘ kennengelernt haben und nun Freunde sind. Ich freue mich, dass wir dies ermöglichen können“, sagt beispielsweise der 25-jährige Yahda aus Syrien. Er engagiert sich seit einem Jahr bei dem Verein in Berlin.
Weitere Aktivitäten wie Fußballspielen, Basteln oder Gärtnern sind dazugekommen
Und so wurde aus der Idee des gemeinsamen Kochens der Verein „Über den Tellerrand“. Es sind weitere Aktivitäten hinzugekommen, zum Beispiel Fußballspielen, Basteln, Gärtnern oder Musizieren. Das Hauptquartier des Vereins ist der so genannte „Kitchen Hub“ in Berlin Schöneberg. Hier treffen sich fast täglich Menschen mit und ohne Fluchterfahrung, um voneinander zu lernen und gemeinsam „über den Tellerrand“ zu schauen. Das Kennenlernen ist ungezwungen, denn die gemeinsamen Aktivitäten verbinden und überbrücken auch einmal Momente der Stille. Zudem schafft das gemeinsame Erleben ein bestärkendes „Wir-Gefühl“. Nicht selten stellen die Teilnehmer*innen dabei fest, dass sie mehr vereint als trennt. „Was ich letztens gelernt habe, ist, dass die Deutschen genau wie wir Araber „Artischocke“ sagen. Es ist genau dasselbe Wort. Ich denke eh, wir haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede“, bekräftigt Yahda aus Syrien.
„Kitchen on the Run“ – die mobile Küche, die Kulturen verbindet
Seit 2016 gibt es außerdem das Projekt „Kitchen on the run“. Nahezu jedes Jahr reist ein Team von „Über den Tellerrand“-Aktiven mit einem zur mobilen Küche umgebauten Schiffscontainer quer durch Deutschland und Europa. Sie veranstalten internationale Kochabende an unterschiedlichen Orten. Bei den Veranstaltungen, bei denen sich alles rund ums Thema Essen dreht, lernen sich Menschen verschiedener Herkunft in gemütlicher Atmosphäre kennen, tauschen Lieblingsrezepte aus oder erzählen ihre persönlichen Geschichten. So soll ein positives, offenes Miteinander gefördert werden. Gleichzeitig weitet sich das „Über den Tellerrand“-Team-Netzwerk auf neue Standorte aus. Die neu entstandenen lokalen Communities werden dann in das so genannte „Satellitennetzwerk“ des Vereins aufgenommen. Sie agieren als eigenständige Gruppen, sind aber eingebunden in das deutschlandweite Netzwerk und werden von der Berliner Geschäftsstelle tatkräftig unterstützt. Die nächste Containertour ist für 2021 geplant.
„Über den Tellerrand“-Café in München: Geflüchtete Menschen sind hier nicht nur Angestellte
Das Vereinsnetzwerk besteht heute aus 40 Satelliten, also deutschlandweiten Standorten außerhalb des Hauptsitzes in Berlin. Wie aktiv auch die Satelliten sind, zeigt das Beispiel München. Hier haben Geflüchtete und Einheimische ein Café eröffnet, das sie gemeinsam professionell betreiben. Dieses befindet sich in den Räumen der Volkshochschule München und zieht damit ein breites Publikum an: von Menschen mit Fluchthintergrund, die Integrations- und Sprachkurse besuchen, bis hin zu Urmünchner*innen, die einen Töpferkurs belegen. Oder andersherum! Das Konzept des Cafés bleibt der Grundidee des Vereins treu: Geflüchtete Menschen sind hier nicht nur Angestellte, sondern Mitgestalter*innen und Gastgeber*innen. Sie können eigene Ideen einbringen, Gerichte aus ihrer Heimat zubereiten und gleichzeitig die ihrer neuen Heimat kennenlernen. Oder andersherum. Denn ein Blick über den Tellerrand bereichert eben nicht nur in kulinarischer Hinsicht – wir alle können noch so einiges dazu lernen.
Die Arbeit des Vereins „Über den Tellerrand“ ist noch viel umfangreicher. Hier gibt es mehr Informationen: https://ueberdentellerrand.org/
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