Interview: Kristin Frauenhoffer
Es gibt eine Geschichte, die zu Zeiten Buddhas spielt. Eine junge Frau verliert ihr Kind und will es einfach nicht wahrhaben. Warum gerade ihr Kind? Tagelang läuft sie mit ihrem toten Sohn auf dem Arm herum, völlig verzweifelt. Jemand gibt ihr den Rat, zum Buddha zu gehen, vielleicht könnte er durch einen Zauber ihr Kind wieder lebendig machen. Sie geht also zum Buddha und klagt ihm ihr Leid. Der Buddha versteht sofort, dass die Frau für keine rationalen Argumente zugänglich ist und gibt ihr eine Aufgabe: „Gehe zu allen Häusern in deiner Stadt und hole ein paar Sesamsamen. Es dürfen aber nur Samen von Menschen sein, in deren Umkreis noch niemand gestorben ist.“ Die Frau schöpft Hoffnung und geht los. An jeder Tür, an der sie anklopft, bekommt sie viel Mitgefühl und jede*r ist bereit, ihr Sesam zu geben – sogar säckeweise. Doch niemand kann die Bedingung erfüllen. Alle Menschen, die sie trifft, haben bereits einen Verlust erlitten. Langsam kommt die Frau zu Sinnen und ihr wird klar: Niemand ist vom Tode verschont, niemand ist allein in seiner Trauer. Ihr Sohn wird nicht zurückkommen, aber sie wird überleben.
Mit dem Tod eines nahestehenden Menschen fertig zu werden, ist für uns vermutlich die schwierigste Aufgabe überhaupt. Viele fühlen sich dabei einsam und denken, sie wären die Einzigen, denen dieses Schicksal widerfährt. Die Geschichte oben zeigt sehr anschaulich, dass dem nicht so ist.
Seit September gibt es einen Podcast mit dem Namen „Trauerei“, der sich dem Thema Tod und Trauer nähert. Es ist ein Podcast, der trauernden Menschen helfen will, indem er ihnen signalisiert: Ihr seid nicht allein! Andererseits sollen auch die, die nicht gerade trauern, aber vielleicht mit Menschen zu tun haben, die erst jemanden verloren haben, sensibilisiert werden. Auch wenn das Thema Tod ein zutiefst menschliches ist und uns alle betrifft, ist es immer noch ein großes Tabu in unserer Gesellschaft. Vier junge Frauen aus Berlin, darunter Mira Höschler, haben diesen Podcast ins Leben gerufen. Im Interview erzählt sie uns mehr über das ungewöhnliche Projekt.
Mira, wie kommen vier junge Frauen darauf, einen Podcast zum Tod, Sterben und Trauer ins Leben zu rufen?
Wir, das sind Anna, Trauerbegleiterin und Leiterin einer Trauergruppe für junge Erwachsene in Berlin, Kathleen, Sara und ich. Wir drei haben vor ein paar Jahren an Annas Gruppe teilgenommen. „Der Club, in den man nie eintreten wollte“, wie ja gerne sarkastisch gesagt wird. Und nun waren wir alle in diesem Club … Obwohl die Vorstellung am Anfang seltsam war, immer donnerstags zwischen 18 und 20 Uhr „zu trauern“, haben wir doch alle festgestellt, wie wertvoll der Austausch mit anderen ist: Gefühle und Gedanken dazu zu teilen, zu merken, dass all das, was wir durchleben, irgendwie ziemlich normal ist. Dass wir nicht alleine sind und der Trauer Raum und Zeit geben sollten.
Schon vor der Covid-Pandemie dachten wir, es sei eine wertvolle Idee, diese Art von Austausch für viele Menschen (ob jung oder alt) zugänglich zu machen und andere Geschichten und Erfahrungen zu hören. Tatsächlich gibt es leider nur sehr wenige Angebote für die Zielgruppe der 20- bis Ende 30-Jährigen. Nur in wenigen größeren Städten gibt es Trauergruppen. Als dann noch Corona kam und auch Annas Gruppen nicht mehr stattfinden konnten, wurde der Wunsch noch stärker, eine Online-Möglichkeit für alle zu schaffen.
Wie ging es dann weiter?
Anna war gleich begeistert von der Idee und hat nach Möglichkeiten geschaut, wie sie über die Trauerstelle beim Evangelischen Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg in Berlin Fördergelder akquirieren könnte, um die Idee umzusetzen. Tollerweise haben wir dann etwas Zuschuss von der Evangelischen Kirche Deutschland und dem Verein Andere Zeiten e. V. erhalten. Wir haben alle ehrenamtlich gearbeitet, aber am Ende kostet die Produktion eines Podcasts mit Aufnahme, Schnitt, Hosting etc. dann ja doch auch Geld.
Kathleen war die treibende Kraft hinter der Idee. Zwischen Jobwechsel und Geburt ihres zweiten Kindes schrieb sie ein Konzept und hat uns alle immer wieder angetrieben und mitgerissen. Gemeinsam haben wir nach Interviewpartnern geschaut, mit denen Kathleen dann Vorgespräche geführt hat, um Schwerpunkte für das Gespräch herauszufinden. Sara ist bereits Moderatorin einiger Podcasts und damit hatten wir dann schon eine großartige Frau mit toller Stimme und Erfahrung an Bord. Das ist super hilfreich und bringt den Podcast auf eine professionelle Ebene.
Was besprecht ihr im Podcast mit euren Gästen?
Wir möchten vor allem Themen abdecken, statt bloß eine Geschichte an die nächste zu reihen. Beispielsweise zum Thema Schuldgefühle, Tod ohne Abschiedsmöglichkeiten, Vollwaise in jungen Jahren, Mutter werden und zeitgleich die eigene Mutter verlieren, Geschwisterverlust und so weiter.
In der ersten Folge stellen sich Sara und Kathleen vor und berichten von der Podcast-Idee.
Anna trägt mit ihrer Expertise bei. Alle paar Wochen gibt es eine Extra-Folge mit ihr, wo sie Fragen, die uns zum Thema Tod und Trauer erreichen, beantwortet.
Neben dem Podcast gibt es auch noch eine Webseite, wo wir neben den Folgen auch immer noch Input rund um das Thema geben – Lesetipps für Bücher und Artikel, Filmideen, eigene Gedanken, hilfreiche Kontakte usw. Darum kümmere ich mich, genauso wie um unseren Instagram-Kanal. Der wird dann mit den Inhalten der Webseite und vielem mehr gefüttert. Über hallo@trauerei.org kann man uns immer erreichen und Fragen, Gedanken, Ideen senden.
Warum ist es euch wichtig, diesen Podcast zu machen?
Ein erstes Ziel ist, allen Trauernden da draußen zu sagen: „Hallo, ihr seid nicht allein!“ So seltsam das klingt, es ist enorm wichtig. Nach unseren eigenen Erfahrungen und nach all den Geschichten, die wir hören, wissen wir, dass man sich als Trauernde*r oftmals immer noch so allein und alleingelassen fühlt. Man denkt: „Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, dem so etwas Schlimmes passiert!“ Warum kann niemand mitfühlen, warum fragt niemand (mehr) nach?
Es hilft tatsächlich unglaublich, von anderen zu hören und zu merken, dass man eben nicht allein ist, dass wir Trauernde sehr ähnliche Gefühle haben. Die Geschichten sind natürlich sehr individuell, aber vieles ähnelt sich: Wie gehen Freund*innen und Bekannte mit einem um? Wie verschieben sich Familienkonstellationen? Warum herrscht oftmals eine so große Sprachlosigkeit bei allen Beteiligten? Oder auch: Der Tod ist schon fünf Jahre her und mir geht es immer noch nicht besser – ist das noch normal? Diese Fragen und Gedanken ähneln sich dann doch wieder bei vielen.
Ich fände es schön, eine Art Trauer-Community aufzubauen. Mit Leuten in den Austausch zu kommen, uns gegenseitig zu stärken. Einen kleinen Anfang macht der Podcast damit.
Und dann gibt es das große Ziel, den Tod, das Sterben und die Trauer als Tabuthema in unserer Gesellschaft zu brechen. Lasst uns darüber reden und austauschen! Wir werden alle – früher oder später – damit in Berührung kommen. Weggucken, wegducken, ignorieren helfen einfach nicht.
An wen richtet sich der Podcast?
Wie auch in Annas Trauergruppen sind junge Erwachsene die Kern-Zielgruppe. Ich finde es schwer, da eine Altersangabe zu machen. Tatsächlich ist es aber so, dass es einige Angebote für trauernde Kinder gibt und dann auch wieder Treffen für ältere, z. B. verwitwete Menschen. Aber dazwischen ist eine Lücke, die wir mit dem Podcast schließen möchten. Warum es diese Lücke gibt, ist eine große Frage. Vielleicht weil in der Mitte des eigenen Lebens, das voller Entwicklung und Visionen für die Zukunft steckt, wo man feiern möchte und frei und sorglos ist, Themen wie Sterben und Tod eigentlich noch nicht vorgesehen sind. Umso schwerer wird oft der Verlust eines geliebten Menschen erlebt, mit dem man noch so viel teilen wollte. Und im Alltag fehlt oftmals der Platz für Trauer.
Die zuletzt erschienene Folge des Podcasts ist deine eigene Geschichte. Wie war es für dich, im Rahmen dieses Podcast über den Tod deiner Mama zu sprechen?
Ich war zwar etwas aufgeregt, als Sara mit dem Mikrophon vor mir saß, aber das Seltsame ist: Ich kann über den Tod meiner Mutter und auch all den Schmerz, der damit bis heute verbunden ist, sehr gut reden, ohne dass es mich wirklich trifft. Es ist wie aus einer Vogelperspektive oder als würde ich die Geschichte von jemand anderem erzählen. Dass die Geschichte nun online ist und damit „in die Welt“ geht, ist natürlich schon besonders. Aber wie gesagt, ich finde, darüber reden ist tausendmal wichtiger, als dies nicht zu tun.
Gibt es andere Momente, in denen dich die Trauer besonders trifft?
Ja, es gibt einige Momente, die mich traurig machen. Zum Beispiel, wenn ich irgendwo die Handschrift meiner Mama sehe. Oder wenn ich andere Omas mit ihren Enkeln sehe, werde ich nach wie vor sehr traurig und schaue weg oder wechsle sogar die Straßenseite. Meine Mama ist ein paar Wochen vor der Geburt meiner ersten Tochter gestorben. Sie hatte sich so sehr Enkelkinder gewünscht und nun ist sie die Einzige, die ihre tollen Enkelinnen nicht kennengelernt hat – und auch umgekehrt. Es schmerzt mich sehr, dass meine Töchter keine Oma haben. Mir fehlt der Austausch mit ihr, die reale und mentale Unterstützung. Und ich hätte ihr so gerne so vieles gesagt, was ich erst begriffen habe, als ich selbst Mutter wurde. Ich hätte mich gerne bedankt für ihre großartige Leistung als meine Mama.
Und auch das Verhältnis zu meinem Vater und Bruder ist nicht einfach. Wenn jemand wegbricht in der Familie, geht die bisherige Balance und Dynamik verloren, und alle müssen sich in der neuen Konstellation wiederfinden. Oftmals herrscht diese besagte Sprachlosigkeit. Dabei sind es in meinem Fall genau die zwei Menschen, mit denen ich mich am besten an meine Mutter erinnern könnte. Dass es diese Erinnerungskultur bei uns nicht gibt, erschwert die Trauerarbeit für mich.
Ihr habt jetzt 7 Folgen veröffentlicht. Wie sind die Reaktionen auf den Podcast?
Total positiv. Mir haben ganz viele Menschen gesagt, dass sie erst durch diesen Podcast überhaupt für das Thema sensibilisiert worden sind. Und dann auch wirklich angefangen haben, Freunde oder auch die Familie zu kontaktieren, um nachzufragen, wie es ihnen geht und das Thema einfach einmal anzusprechen. Was bei mir nach der Ausstrahlung des Podcasts passiert ist, ist wunderbar und heilsam. Ich habe ganz viele berührende Nachrichten von Freunden und Bekannten bekommen, die anscheinend tatsächlich jetzt erstmalig verstehen, wie es mir wirklich in den letzten fünf Jahren ging. Das war total überwältigend. Und mit meinem Vater hatte ich – ausgelöst durch den Podcast – das beste Gespräch seit vielen Jahren. Ich fühle mich jetzt in meiner Trauer und dem Schmerz mehr gesehen und verstanden, und das ist wirklich ein enormer Schritt.
Wie gehst du mit deiner Trauer um und was hilft dir?
Tja, das ist schwer zu sagen. Die Zeit heilt alle Wunden. Nun ja, teils, teils. Es wird anders und auch besser, aber ich arbeite tatsächlich auch daran. Ich habe gemerkt, es einfach laufen zu lassen und zu hoffen, es geht irgendwann vorbei, funktioniert bei mir nicht. Ich vergleiche da die Trauer gerne mit einem Monster, das bei mir an die Tür klopft und unbedingt reingelassen und gesehen werden will. Und das tut es immer wieder. Bestimmt fünf Jahre lang saß da ein Riesenmonster auf meinem Sofa und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es hat mir die Luft zum Atmen genommen und mich so unglaublich müde gemacht. Jetzt hat mir vor allem eine gute Therapeutin mit Schwerpunkt Körperarbeit geholfen.
Das Monster ist nun viel kleiner geworden, quasi ein Monsterchen und es ist Teil von mir. Es ist auch nicht mehr so bedrohlich wie in den ersten Jahren, sondern es will hin und wieder einfach nur gesehen werden. Dann kann ich es hervorholen und mich auch mal etwas intensiver mit ihm beschäftigen – auf welche Art auch immer. Und das scheint mir etwas zu sein, was ich gut handhaben kann. Denn dableiben wird es für immer, das weiß ich nun. Und dann ist es tatsächlich der Austausch mit anderen Betroffenen, die mitfühlen können, die nachfragen, wo man sich nicht entschuldigen oder schlecht fühlen muss, dass man schon wieder mit diesem Thema anfängt. Der Podcast war ebenfalls eine große Hilfe im „Weiterkommen“.
Was ist deine größte Erkenntnis aus dem Trauerprozess?
Ich hatte nicht mit der Wucht gerechnet. Die Wucht, wie sehr es schmerzt, die Wucht, wie das Leben plötzlich so andere Bahnen einschlagen kann. Die Wucht, wie man selbst zu einem anderen Menschen wird, die Wucht, wie anstrengend diese Art der Arbeit ist.
Neben meinem Erwerbsjob gibt es meine Familie und den ganzen Alltag mit seinen Herausforderungen. Und dann gibt es noch die Trauerarbeit. Ich finde, Menschen sollten dafür entlohnt werden. Es ist der Wahnsinn, das noch neben allem anderen zu stemmen. Und keiner bekommt es mit oder soll es mitbekommen. Die Trauer ist so unsichtbar in unserer Gesellschaft. Das war mir nicht klar. Und auch ich kann es erst richtig, also so ganz tief nachempfinden, seitdem ich selbst Trauernde bin. Ich möchte meinen Hut ziehen vor allen Menschen, die sich auf diesem Weg befinden. Denn ich weiß jetzt, wieviel Kraft und Mut dieser Weg kostet.
Was ist deine Botschaft an Angehörige, Freund*innen oder Bekannte von Trauernden?
Ich möchte ihnen und der ganzen Gesellschaft sagen: Seid umsichtig mit diesen Menschen und seht sie. Auch wenn es euch sehr schwerfällt, diese Themen anzusprechen, gebt euch einen Ruck. Es ist so heilsam für die trauernde Person. Und wenn es nur ein: „Du, ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll!“ ist.
Mir ist es wichtig, zur Sichtbarkeit dieser Themen beizutragen, vor allem für meine Kinder. Ich möchte nicht, dass Tod und Trauer bei uns zu Hause Tabuthemen sind. Es muss nicht ständig darüber geredet werden, aber die Fragen meiner Kinder dazu beantworte ich gerne ausführlich. Wir reden über meine Mama und auch über andere um uns herum, die gestorben sind, oder über die Menschen, die traurig sind.
Alle Folgen und noch mehr Infos zum Thema Trauer findet ihr auf dem Blog!
Ihr könnt der Trauerei auch folgen auf Instagram, Spotify und überall, wo es Podcasts gibt.
Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt.
Eine Antwort
Guten Tag
Das Projekt ist eine sehr gute Idee. Ich, 82 J., männlich, verh., habe schon, wie ihr euch denken könnt, Trauriges erlebt. Gut fand ich das Buch von Jorgos Canakakis „Ich sehe deine Tränen“.
Was sicherlich auch von Einfluß ist: Der Umgang der Erwachsenen (Eltern, Bezugspersonen und Personen in Institutionen) mit Kindern, Jugendlichen und jungen (bis 25 J.) Erwachsenen. Dazu gibt es von mir eine im Handel erhältliche, kompakte Darstellung von Ergebnissen der wissenschaftlichen Erforschung dieser Lebenszeit, die auch aufzeigt, welche Folgen die Bedingungen der Zeit des Heranwachsens im späteren Leben haben, und wie man Belastungen aus dieser Zeit aufarbeiten kann:
„Kbegleiten II“
Zusätzlich erwähne ich noch Energiearbeit, z.B. die Wohnstatt betreffend – bei Interesse mehr.
Herzlichen Gruß J. T.
Deine Daten werden verschlüsselt übertragen. Deine IP-Adresse wird nicht erhoben.
Infos zum Datenschutz