von Gerda Stauner
Morgens aufzuwachen und seine Bestimmung zu kennen, ist sicher ein schönes und besonderes Gefühl. In Japan hat sich in den letzten Jahrzehnten ein richtiggehender Trend dahingehend entwickelt, solch ein Ziel im Leben zu finden. Es gibt dort zahlreiche Selbsthilfebücher, die zum Beispiel Rentner*innen helfen sollen, nach einem auf ihren Job ausgerichteten Leben ein neues Ikigai jenseits der Arbeit zu finden. Das ist sicher nicht ganz einfach und genau da setzen die Ratgeber an. Eine der ersten, die Mitte des 20. Jahrhunderts in Japan darüber schrieb, war die Ärztin und Psychiaterin Mieko Kamiya. Zuvor war sie Übersetzerin am Kaiserhof gewesen und kam schon dort mit philosophischen Fragen in Kontakt.
Ikigai hilft, die eigene Bestimmung zu finden
Der Begriff Ikigai tauchte in Japan bereits im 14. Jahrhundert auf. Doch erst seit den 1970er Jahren verbindet man damit auch eine Methode, deren Ziel es ist, den Sinn für sein eigenes Leben herauszufinden. Dabei werden die Schnittmengen von vier zentralen Lebensbereichen betrachtet, um nach der eigenen Bestimmung zu suchen und daraus tiefe Zufriedenheit zu schöpfen.
Zwischen dem 14. Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg war für Japaner*innen mit dem Begriff Ikigai eher die Frage verbunden, wofür es sich im Hinblick auf den Kaiser und die Nation zu sterben lohne. Während des Krieges in den 1940er Jahren nutzte die staatliche Propaganda den Begriff dann, um den Heldentod von Soldaten zu glorifizieren und Frauen anzutreiben, durch möglichst viele Geburten die Nation zu vergrößern.
Frage nach dem Sinn des Lebens
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte niemand Zeit, sich Gedanken über Ikigai zu machen, schrieb Mieko Kamiya, die in den 1960er Jahren ein Buch über die Suche nach dem Sinn des Lebens verfasste. Die Menschen wären vielmehr damit beschäftigt gewesen, nicht zu verhungern. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zwei Jahrzehnte später rückte die Frage nach dem Lebenssinn wieder in den Fokus der Gesellschaft. Mieko Kamiyas Ikigai war die Pflege von Leprakranken gewesen, doch mehr und mehr beschäftigte sie sich mit der Frage nach den Lebenszielen und schrieb in ihrem Buch „ikigai-ni-tsuite“:
„Es gibt für den Menschen nichts anderes, um das Leben voll zu leben, als Ikigai. Deshalb gibt es keine größere ‚Grausamkeit‘, als Menschen ihres Ikigai zu berauben. Und es gibt keine größere Liebe, als den Menschen ihr Ikigai zu geben.”
Die Ikigai-Methode und vier zentrale Fragen
Um für sich selbst die Frage nach der eigenen Bestimmung beantworten zu können, soll man sich vier Fragen zu wichtigen Themenbereichen im Leben stellen:
Was liebe ich, für was kann ich mich begeistern? Worin bin ich gut? Wofür werde ich bezahlt? Was braucht die Welt?
Man hat sein Ikigai gefunden, wenn man für das, was man gut kann und wofür man brennt, bezahlt wird und die Welt gebrauchen kann, was man tut. So könnte man mit modernen Worten ausdrücken, was den Kern der Ikigai-Methode ausmacht. Oder, wie es eine junge Japanerin in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung ausdrückte: Ikigai sei das, wofür man weiterlebe, wenn man traurig ist.
Doch auch hierzulande gibt es Menschen, die, ohne es zu wissen, die Suche nach dem Ikigai nutzen, um glücklicher zu leben. Ein Freund von mir erzählte mir unlängst, dass er jeden Morgen nach dem Aufwachen in Gedanken drei schöne Dinge aufzähle, auf die er sich freue. Das kann ein Essen mit Freunden sein, ein Geschenk, das man überreichen darf, oder ein Buch, das darauf wartet, gelesen zu werden. Die Vorfreude auf all die guten Dinge, die der Tag ihm bringen würde, würde ihm das Aufstehen viel leichter machen. Außerdem wäre er viel glücklicher und zufriedener, seitdem er dieses Gedankenspiel betreibe. Vielleicht ist das ja die deutsche Antwort auf Ikigai, für die wir keinen eigenen Begriff haben und vielleicht auch kein eigenes Wort brauchen. Wir müssen es nur machen.
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