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Nora Hille:
„Die Liebe zu meiner Familie bindet mich ans Leben.“

Trotz psychischer Erkrankung ein gutes und reiches Leben führen. Nora Hille zeigt in ihrem Mutmachbuch „Wenn Licht die Finsternis besiegt“, wie das gelingen kann.
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Interview: Kristin Frauenhoffer

Psychische Krankheiten sind in unserer Gesellschaft immernoch ein großes Tabuthema. Hat man sich den Arm gebrochen oder einen schlimmen Husten, geht man zum Arzt und hat keine Scheu, anderen davon zu erzählen. Aber wenn die Seele leidet, haben viele Menschen den Drang, das zu verstecken oder gar zu verdrängen. So ging es auch Nora Hille, die seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr mit einer Bipolaren Störung lebt. Ein zufälliges Gespräch mit einer Mutter, deren Sohn in eine psychische Erkrankung abzurutschen drohte, war für sie der Auslöser, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. „Wenn Licht die Finsternis besiegt“ heißt ihr schonungslos offenes Buch, in dem sie zwar viele schmerzhafte Erfahrungen schildert, aber auch zeigt, wie es ihr gelungen ist, ein gutes Leben für sich und ihre Familie aufzubauen. Es ist ein Mutmachbuch für Betroffene und deren Umfeld. Im Interview erzählt sie mehr darüber.

Hallo Nora, wie fühlst du dich heute?

Ich habe gute Laune. Ich bin aber kräftemäßig ausgezehrt durch die Buchveröffentlichung. Das ganze Jahr war sehr anstrengend. Und heute habe ich erstmals den Satz gedacht: Es ist okay, erschöpft zu sein! Mir geht es gut, wenn ich in die radikale Akzeptanz gehe. Ich habe aufgrund meiner Geschichte oft noch die Leistungsorientierung in mir drin. Da ist so ein Satz, dass es okay ist, erschöpft zu sein, als Erkenntnis sehr wertvoll.

Du lebst mit einer bipolaren Erkrankung. Was bedeutet das?

Früher hieß das Krankheitsbild manisch-depressiv. In der Bevölkerung ist das auch heute oft noch verständlicher. Bei der Bipolaren Störung hat man neben stabilen Phasen auch Phasen der Depression in allen Schweregraden sowie Phasen der Beschleunigung des Denkens und Handels. Das nennt sich Hypomanie. Wenn es stärker wird, kann es zur Manie werden. Das ist wie unter Dauerstrom zu stehen, Schlafen wird teils nahezu unmöglich, extremer Rededrang und fixe Ideen können auftreten. Betroffene sind dann zu normaler sozialer Interkation nicht mehr fähig. In der Manie kann es, gerade auch wenn diese nicht behandelt wird, mitunter zu Wahnvorstellungen kommen. Bipolar erkrankt zu sein bedeutet, im Zeitverlauf extreme Stimmungsschwankungen zu erleben, die sich ein psychisch gesunder Mensch nicht vorstellen kann. Es kann aber auch stabile Phasen von Wochen, Monaten oder sogar vielen Jahren geben.

Es gibt in Deutschland 4 Millionen Menschen mit bipolarer Erkrankung. Im Vergleich dazu erkranken jährlich 5,3 Millionen an Depressionen. Aber in der Gesellschaft ist die Bipolare Störung trotz ihrer hohen Verbreitung nur wenig bekannt. Da wäre es gut, wenn die Diagnose früher gestellt werden könnte. Denn die Behandlung ist eine andere als zum Beispiel bei Depressionen.

Wie ist die Krankheit bei dir ausgeprägt und wie gehst du damit um?

Nach der Geburt unseres Sohnes vor 15 Jahren hatte ich eine manische Episode. In der Gesellschaft ist die Kenntnis über Manie zumeist nur mit ihrer euphorischen Form verbunden, es gibt aber auch die verzweifelte Manie, die dysphorische. So war es bei mir. Seitdem bin ich kontinuierlich in ärztlicher und therapeutischer Behandlung. Und seitdem gehen die Phasen bei mir nur noch bis zur Hypomanie, nicht mehr ganz hoch bis zur Manie. Ich habe im Laufe der Jahre immer mehr Routine bekommen, bin zur Managerin meiner Erkrankung geworden, was natürlich die Herausforderung zum Beispiel in einer depressiven Episode nicht mindert. Wenn ich Depressionen habe, dann geht es mir natürlich genauso wie jedem anderen Menschen, der eine Depression erfährt und jeden Tag gegen Verzweiflung und Antriebslosigkeit ankämpfen muss. Aber ich lebe ja schon seit 25 Jahre mit der Erkrankung und ich weiß, dass es immer ein „Danach“ gibt. Das schenkt mir Hoffnung.

Dein Sohn ist jetzt 15… hast du die Diagnose schon vorher erhalten?

Ja, mit Anfang 20 erhielt ich erstmals die Diagnose Bipolar. Aber ich habe sie nach einem Jahr der Behandlung verdrängt, für ein ganzes Jahrzehnt. Es ist nicht unüblich, dass gerade junge Menschen psychische Diagnosen erstmal verdrängen und sie als einmalige Krise abtun. Aber als nach der Geburt die Diagnose erneut gestellt wurde, wusste ich, dass ich mich behandeln lassen muss. Ich hatte so intensive Gefühle von Liebe und Verantwortung gegenüber unserem Sohn, dass es mir wichtig war, mich um mich zu kümmern und meiner Mutterrolle gerecht zu werden. Und auch heute noch ist es so, dass aus der Verantwortung und Liebe zu meinen Kindern eine Kraft erwächst, die stärker ist als es die bipolare Erkrankung jemals sein könnte.

Das ist auch der Grund, dass ich mich für ein reizarmes, ruhiges Leben entschieden habe. Ich würde dieses Leben mit der Familie niemals aufs Spiel setzen, indem ich zum Beispiel eigenmächtig mit meinen Medikamenten herumexperimentiere. Mir ist auch wichtig, professionelle Ansprechpartner zu haben.

Du hast dieses Jahr im Verlag Palomaa Publishing ein Buch veröffentlicht, in dem du die Leser*innen mitnimmst in deinen Alltag, aber auch in deine Vergangenheit bis hin zu den traumatischen Auslösern der Erkrankung. Das ist oft sehr schmerzhaft zu lesen. Und trotzdem ist es ein Mutmachbuch. Inwiefern?

Beim Schreiben des Buches war die Leitfrage für mich: Wie kann ich Menschen, die seit Jahren dieses Krankheitsbild oder eine andere ausgeprägte psychische Erkrankung haben und dadurch viel Leid erfahren, aber auch ihrem Umfeld Mut machen? Für mich war klar, das geht nur, wenn ich zeige, wie tief ich gefallen bin und welchen Schmerz und welche Finsternis ich durchgehen musste, um zum Licht zu finden.
Im ersten Jahrzehnt nach der Diagnose war ich nicht behandelt und hatte schwerste Depressionen, vielfach verbunden mit Suizidgedanken. Das beschreibe ich auch im Buch. Aus meiner Sicht muss ich diese Szenen zeigen, weil ich nur dann glaubwürdig bin, wenn ich Hoffnung schenken will.
Eine junge Frau hat mir beispielsweise geschrieben, dass ihr bereits die ersten Kapitel Hoffnung gegeben haben, ihren Kinderwunsch nicht aufzugeben.

Dieses Thema behandelt auch eine Episode im Buch, die mich sehr bewegt hat. Ein Arzt sagte zu dir, dass Menschen wie du keine Kinder bekommen sollten…

Ja, und das war unheimlich übergriffig und stigmatisierend – und ist leider keine Seltenheit. Aber auch wenn ich mit einer psychischen Erkrankung lebe, dann kann ich sehr wohl eine liebevolle Mutter sein. Was qualifiziert jemanden denn, ein guter Elternteil zu sein? Die Person sollte in der Lage sein, eine emotional stabile Beziehung über lange Zeit zu führen und liebevoll mit anderen Menschen umzugehen. Und wenn eine Frau weiß, dass sie eine psychische Erkrankung hat, kann das die Gelegenheit sein, sich im Rahmen eines Kinderwunsches damit selbstkritisch auseinander zu setzen. Man kann sich vorher Fragen zum Partner und zum Umfeld stellen oder wie stabil man ist und diese Themen auch mit Therapeut*innen und behandelnden Psychiater*innen besprechen.
Übrigens stellt eine Geburt für eine Frau das höchste Lebenszeitrisiko dar, erstmals an der Bipolaren Störung zu erkranken oder, liegt diese bereits vor, einen Schub im Rahmen der Erkrankung zu erleiden. Grundsätzlich ist die Phase nach der Geburt eine sehr sensible Phase für das Entstehen von psychischen Erkrankungen.

Eine Motivation für dich, das Buch zu schreiben war auch, Bipolare Störungen und psychische Krankheiten allgemein von Stigmatisierung zu befreien. Worin besteht die Stigmatisierung?

Es gibt immer noch viele Vorurteile und Ängste in der Gesellschaft, die in Bezug auf psychische Erkrankungen vorherrschen. Das liegt meiner Ansicht nach zum einen an extremen Darstellungen in den Medien, in Filmen und Büchern. Zum anderen an zu wenig Wissen und damit verbundenen Berührungsängsten. Diese Vorurteile werden dann auf bestimmte Krankheitsbilder projiziert (z.B. Depressive sind faul. Bipolare sind unzuverlässig. etc.).

Um Stigma zu reduzieren ist die laut Studien wirksamste Maßnahme, wenn man Kontakte zwischen psychisch erkrankten und gesunden Menschen fördert. Da gibt es dann zum Beispiel Vereine wie irrsinnig menschlich e.V., die aktiv daran arbeiten, das Thema gesellschaftlich sichtbar zu machen, indem sie in Schulen, Berufsschulen, Hochschulen und Sportvereine gehen, dort Vorträge halten und sich Diskussionen stellen.

Ich selbst engagiere mich im Verein Mutmachleute und deren Botschaft lautet: „Seht her, das sind Menschen, keine Diagnosen.“ Deshalb würde ich nie sagen: Ich bin bipolar. Das würde ja bedeuten, dass es das ist, was mich ausmacht. Ich sage immer: Ich habe eine bipolare Erkrankung. Doch vor allem bin ich ein Mensch mit Wünschen, Träumen, Problemen und Hoffnungen und einer unsterblichen Seele wie jede und jeder andere auch. Darüber hinaus habe ich eine chronische psychische Erkrankung. Die ist es aber nicht, was mich als Mensch ausmacht. Auf der Homepage der Mutmachleute kann übrigens jede*r mit psychischer Diagnose oder aus dem engen Umfeld zur/m Mutmacher*in für andere werden.

Außerdem nutze ich meine Rolle als Autorin. Ich habe eine eigene Kolumne zur mentalen Gesundheit beim Online-Magazin femalexperts.com, in der ich immer wieder Anti-Stigma-Positionen vertrete und auch meine eigenen Erfahrungen einfließen lasse. Es darf immer selbstverständlicher in unserer Gesellschaft werden, über psychische Herausforderungen und Erkrankungen zu sprechen, denn mentale Gesundheit geht uns alle an. So hoffe ich, andere zu ermutigen.

Das tust du auch, indem du in deinem Buch Dinge zur Sprache bringst, die für dich anfangs schambesetzt waren, wie zum Beispiel, dass du einen Pflegegrad hast und verrentet bist. Wie schwer ist es dir gefallen, das öffentlich zu machen?

Ich bin da nach und nach hineingewachsen. Es ist für alle ähnlich Betroffenen ein herausfordernder Prozess, in unserer Leistungsgesellschaft sich selbst wieder einen Wert zuzuerkennen, wenn man es gerade schwarz auf weiß bekommen hat, dass man nicht mehr in der Lage ist, „das Spiel mitzuspielen“. Dann zu sagen „und ich bin DOCH wertvoll für unsere Gesellschaft“, zum Beispiel weil ich meine Mitmenschen freundlich und respektvoll behandele, eine gute Freundin bin, mich ehrenamtlich engagiere, ist zunächst herausfordernd. Der erste Schritt ist es, am eigenen Selbstwert zu arbeiten, sich unabhängig von Fremdurteilen zu machen und auch von der Gesellschaft zu machen. Deswegen ist es mir auch so wichtig, mit meinem Buch meine Leser*innen hier liebevoll und wertschätzend anzustubsen, indem ich meine Gedanken dazu mit ihnen teile und zeige, wie ich mit positiven Glaubenssätzen an meiner Selbstliebe gearbeitet habe.

Was waren denn die Reaktionen auf dein Buch?

Ich habe bisher sehr berührende und tolle Reaktionen bekommen. Es haben mir viele Menschen geschrieben, dass sie mein Buch ermutigt hat, sie sich darin wiederfinden konnten oder als Angehörige die Erkrankung nun besser verstehen. Eine Leserin schrieb, das Buch sei so spannend wie ein Krimi, nur dass alles aus dem echten Leben stammt. Wenn ich merke, dass ich andere berührt habe, dann freue ich mich.

Und was hat das Schreiben des Buches mit dir gemacht?

Das Schreiben war relativ leicht (mit Ausnahme der für mich traumatisch erlebten Szenen), aber mich der Öffentlichkeit zu stellen, war schwieriger. Manche Menschen aus meinem Freundeskreis kannten die Diagnose nicht, weil ich das über 20 Jahre als meine Privatangelegenheit betrachtet habe. Ich wollte einfach nicht darüber definiert werden. Und mit dem Buch hat sich das dann geändert. Das war wie ein links-auf-rechts-Drehen meiner Persönlichkeit. Ich habe mir viel abverlangt an mentalem Wachstum mit der Veröffentlichung. Und ich merke, dass ich da noch ein bisschen reinwachsen muss. Ich habe mich beim Schreiben damit ermutigt, dass es Menschen gibt, die auf solch ein Buch gewartet haben. Und gerade zum Thema Muttersein und Familie mit diesem Krankheitsbild gab es zuvor keine Bücher.

Was hilft dir heute im Alltag, mit schwierigen Phasen umzugehen?

Meine liebe kleine Kernfamilie. Mein Mann, der mein bester Freund ist. Unser Sohn, mittlerweile 15, unsere Tochter, 10 Jahre alt. Wir sind eine sehr harmonische Familie mit viel Zusammenhalt und Liebe. Daraus ziehe ich ganz viel Kraft. Ich habe nach wie vor eine Psychiaterin und einen Therapeuten. Professionelle Ansprechpartner*innen zu haben ist so unermesslich wertvoll. Ich habe auch im Laufe der Zeit eine Art von Glauben entwickelt. Während meines stationären Klinikaufenthaltes nach der Geburt unseres Sohnes habe ich angefangen zu beten. Daraus ist mein Glauben erwachsen. Es heißt ja glauben und nicht wissen, deshalb erlaube ich mir, einen Gott der Liebe für mich und meine Familie zu haben. Es stärkt mich unheimlich, da so eine Verbindung zu spüren. Wenn ich aus der Tür gehe zum Beispiel, schau ich kurz in den Himmel und habe das Gefühl, mit allem verbunden zu sein.

Diese Verbindung, die ich spüre, gibt mir das Gefühl, gewollt zu sein. Diese Gewissheit konnte ich leider aus der Beziehung zu meinen Eltern nicht ziehen, deswegen ist sie jetzt umso wertvoller für mich. Und was mir auch hilft, sind positive Glaubenssätze. Die waren ein echter Gamechanger für mich. Durch sie konnte ich am Thema Selbstliebe arbeiten. Meine Kreativität ist zusätzlich meine absolute Kraftquelle, also das Schreiben und Malen. Das verankert mich in der Welt.

Und eine letzte Frage: Bist du glücklich?

Ja, total. Ich bin vor allem sehr dankbar. Dankbar, dass es mich gibt, meine Familie, meine Freundschaften. In Verbindung mit dieser Dankbarkeit bin ich glücklich. Natürlich ist das Glück kein Dauerzustand. Ich fühle mich aktuell zwar ausgepowert, aber in Bezug auf Dankbarkeit bin ich glücklich.
Und wenn ich in eine Depression kippe, ist es belastend, aber ich stelle meine Existenz nicht mehr infrage. Die Liebe zu meiner Familie bindet mich ans Leben.

Das Buch „Wenn Licht die Finsternis besiegt“ kann man hier erwerben.

 

 

 

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