von Isolde Hilt
Ich liebe Liebesgeschichten. Das Leuchten in den Augen, wenn Menschen von dem Moment erzählen, als sie merkten, jetzt ist etwas anders. Wenn sie gedanklich an den Ort zurückkehren, wo es passierte und dich mitnehmen, dich teilhaben lassen …
Bei Jule und Ivan war es ein Copyshop in Rom. Die Berlinerin, die gerade ein Auslandssemester in der Ewigen Stadt zubrachte, hatte sich den Fuß verstaucht, humpelte in den Laden, in dem Ivan jobbte. „Che cosa è successo?“ Was ist passiert? Man kam ins Gespräch, erinnert sich Ivan, traf sich in einer Nacht in einem Klub wieder …: „Also, ganz einfach, wir haben uns verliebt“, stellt er fest, ohne mehr zu verraten, und Jule lächelt in sich hinein. Das ist jetzt über elf Jahre her.
Jule ist eigentlich ein Großstadtmensch. Sie liebt Rom, stammt aus Berlin. Inzwischen lebt sie in Raiano. Etwas, das zu Beginn so eigentlich nicht vorgesehen war. 2012 an Ostern kommt sie zum ersten Mal in die kleine Gemeinde im Pelignatal in den Abruzzen, um Ivans Familie kennenzulernen. Und Raiano zeigt ihr gleich, dass es auch anders kann als nur beschaulich zu sein: „Wir liefen eine Straße hoch, und Ivan sagte zu mir: ‚Es ist nur ein kleines Dorf. Erwarte bitte nichts, es passiert nie etwas.‘ Wir biegen um die Ecke und aus der Bar, die einem Freund von Ivan gehört, steigen Rauchschwaden auf. Ein Typ fliegt horizontal, wie in einem Western, aus dem Laden. Flaschen zerbrechen, und da sind viele aufgebrachte Leute …“
So etwas sei noch nie passiert, weder vorher noch nachher, wirft Ivan ein. Doch hitzige Gemüter gibt es überall auf der Welt, egal, wie groß ein Ort ist. In diesem Fall hatte jemand sein letztes Geld in einen Spielautomaten investiert – vergebens. Der Nächste gewann alles. Der Verlierer war daraufhin so erbost, dass er nach Hause ging, einen Kanister holte, den Spielautomaten mit Benzin übergoss und in Brand steckte.
Expedition Abruzzen muss noch ein bisschen warten
Die ersten sechs gemeinsamen Jahre lebt das italienisch-deutsche Paar in Berlin. „In Italien“, erklärt Ivan, „ist es schwierig, einen Job zu finden. Ich habe mittelalterliche Geschichte studiert; das macht es nicht leichter.“ Berlin als große Stadt habe ihn interessiert. Er findet eine Anstellung in einem internationalen Team bei einer Firma, die Internet via Satellit verkauft. Jule hat ihr Studium in italienischer Philologie und in Kommunikationswissenschaften noch zu Ende zu bringen.
„Das zog sich eine Weile hin. Alles andere war spannender als irgendwelche Hausarbeiten zu schreiben …“ Und gerade in der ersten Zeit seien sie viel in Klubs, auf Konzerten und Festivals gewesen. Mit ihrem Uniabschluss kommt Jule zunächst im PR- und Eventmanagement unter. Veranstaltungen wie einen Kongress für über 8.000 Personen zu organisieren, sind nicht so ihr Ding. Sie wechselt an die Uni, betreut dort Student*innen und ist für kleinere Events zuständig. Ein Job, der ihr eigentlich gefallen habe, erinnert sie sich.
Und doch macht sich langsam eine leise Unruhe in Ivan und Jule breit. Am Wochenende sind sie kaum mehr in der Stadt, sondern lieber im Umland, in Brandenburg unterwegs – in kleinen Orten, an Seen. „Mir persönlich fehlten irgendwann auch die Berge“, gesteht Ivan ein. Die Sehnsucht zurück in den Süden Europas, nach Italien, lässt sich nicht mehr wegdrücken.
Hauptsache Italien …
So groß das Fern- oder auch Heimweh ist, so schwierig gestaltet sich auf der anderen Seite die Suche nach Arbeit. „Im Süden“, schildert Ivan, „ist es fast unmöglich, etwas zu finden“. Und doch fällt die Wahl auf Raiano, 150 Kilometer von Rom entfernt. Zunächst nur als Übergang gedacht, bis man sich orientiert hat, um in einer Stadt sesshaft zu werden, spielt der kleine Ort geschickt auf Zeit …
Mittlerweile hat die 2.700 Seelen-Gemeinde die beiden längst so von ihren Vorzügen überzeugt, dass die Frage nach einem Anderswo verstummt ist. „Es war irgendwie ein schleichender Prozess“, erzählt Jule. Ein Haus von Ivans Großeltern stand leer. „Das ist eine Grotte. Die hat nicht einmal eine Heizung. Da habt ihr gar nichts …, warnte man uns.“ Doch wenn man noch provisorisch unterwegs ist, kann man sich schon einmal auf Zwischenlösungen einlassen. Jule findet die kleine Behausung in den engen Gassen des Bergdorfs niedlich – dieses Rustikale, Charmante. Ivan und sie möchten das Haus, das zur Familie gehört, nicht verfallen lassen. Die Idee, es zu renovieren und später als Ferienwohnung zu vermieten, nimmt Gestalt an.
Corona, der erste Lockdown und der damit deutlich verkleinerte Bewegungsradius geben jedoch noch einmal eine andere Richtung vor. Eine glückliche Fügung, wie Ivan und Jule für sich heute erkennen: „Wir waren in dem Haus und es ging uns eigentlich ganz gut, obwohl um uns herum alles bedrohlich schien. Wir fragten uns: Was machen wir jetzt? Bleiben wir hier? …“ Auf einmal fällt die Entscheidung leicht. Das Paar beschließt, das Häuschen zu übernehmen. „Nicht vermieten. Das ist unser Zuhause, hier ist unser Lebensmittelpunkt.“ Darüber hinaus scheint das Schicksal zu wollen, dass die zwei bleiben: Sowohl Ivan als auch Jule haben mittlerweile einen festen Job gefunden.
Wie die Idee zu Expedition Abruzzen entstand
Während andere jedes Jahr das Abenteuer und Unbekannte in einem neuen Land suchen, verbringen Jule und Ivan auch schon vor Corona jeden Sommer in den Abruzzen. Ivan entdeckt seine Heimat neu, und Jules Augen beginnen zu leuchten, wenn sie von dem Landstrich erzählt, der bereits zu Süditalien zählt. „Wir waren immer unterwegs – in den verschiedenen Nationalparks, in den Dörfern – und von der immensen Vielfalt begeistert. Innerhalb einer Viertelstunde verändert sich die Landschaft total. Mal hast du das Gefühl, du bist im Dschungel, dann bist du auf der Hochebene und denkst an Tibet. Und dann ist da noch das Meer …“
Es muss Frattura gewesen sein, ein verlassenes Dorf, Ruinen, das den Keim zu Expedition Abruzzen legte. Jule überlegt kurz, erinnert sich, wie gestresst sie sich zuvor gefühlt hatte und sich dann plötzlich in dieser Stille wiederfand. „Ich stand da länger, hörte irgendwann Wasser plätschern, den Wind und irgendwo im Hintergrund Schafe. Alles wurde so lebendig … Und gleichzeitig war ich traurig, dass dieser schöne Ort, der eigentlich so viel Leben in sich hat, so verlassen ist, komplett weg aus den Köpfen. Hier haben Menschen gelebt, deren Leben ein Erdbeben zerrissen hat – gestoppt von einem Tag auf den anderen.“ Das, hält Jule fest, sei der Moment gewesen, der etwas in ihr losgelöst, den Wunsch freigesetzt habe, diesen Orten eine Bühne zu geben. Und Ivan erkennt zugleich die Nische, dass es zu den Besonderheiten der Abruzzen nahezu keine Informationen auf Deutsch gibt.
Italien – abseits vom Massentourismus und doch mittendrin
Natur und Wandern, Dörfer und Städte, Kultur und Geschichte, Essen und Trinken: Auf dem Blog „Expedition Abruzzen“ von Jule und Ivan fühlt man sich augenblicklich zuhause. Will das Rezept Spaghetti alla Chitarra gleich selbst nachkochen, sich an der lebensfroh bunten Hauswand in Aielli für ein Shooting zu zweit stellen, lieber gestern als morgen in den Nationalparks Schluchten, Grotten, Buchenwälder, karge Gipfel und Einsiedeleien erforschen … Alle Empfehlungen sind selbst recherchiert, ausgekundschaftet und erlebt.
Was 2018 als Hobby begann, verwandelt sich Schritt für Schritt in ein Netzwerk, das tragen soll. „Freunde von uns haben eine Firma, die typische Produkte aus den Abruzzen verkaufen. Sie könnten sich vorstellen, auf unserer Seite mit einem kleinen Shop vertreten zu sein“, verrät Ivan. Andere Freunde bieten Touren an, mit Lizenz und allem, was man dazu braucht. Exkursionen in deutscher Sprache gebe es noch nicht.
Im nächsten Jahr soll auch ein erstes kleines Feriendomizil direkt bei Jule und Ivan fertig und zu mieten sein.
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Über der Piazza Umberto Postiglione in Raiano dämmert es. Eine einzige Wolke, die sich einem Vulkan gleich hinter den Hausdächern auftürmt, scheint zu glühen. Wie ein bedeutendes Glückszeichen sieht sie aus. Die Region zwischen den Marken, der Adria, Molise und Latium will noch entdeckt werden. Expedition Abruzzen weckt die Neugier auf liebevolle Weise, mit dem Blick der Einheimischen: „Wir möchten Menschen vorstellen und die Geschichten dahinter. Wir wollen mehr dieser Dörfer in den Fokus rücken und die zu Wort kommen lassen, die dort leben. Sie vorstellen mit dem, was sie tun, herstellen und anbieten.“ Das Netzwerk beginnt zu wachsen.
Eines steht für Ivan und Jule ebenfalls fest. Massentourismus passt nicht in ihre gemeinsame Heimat. „Manche Sachen müssen einfach so bleiben. Vielleicht ein bisschen verbessern, aber eine künstliche Sache darf das nicht werden. Die Abruzzen sind das nicht.“
Und hier geht es zum Blog von Jule und Ivan: https://expedition-abruzzen.de/
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2 Antworten
Vielen Dank für den tollen Beitrag. Ich war bereits vor 21 Jahren bei einer Wander-Reise mit „Erde und Wind“, einem deutschen Veranstalter aus Donaustauf bei Regensburg unterwegs und dann noch 3x.
Hoffentlich nicht das letzte Mal (nicht mehr ganz jung)!
Herbert Grabe, der Veranstalter und Reiseleiter feierte 2021 seine 60. Reise in die Abruzzen, dazu bietet er viel Kultur und gutes Essen (Slow Food).
Mich beeindruckt die imposante Landschaft ohne Zersiedelung wie bei uns, die alten Dörfer und Städte.
Habe L’Aquila noch vor dem Erdbeben erlebt und letztes Jahr wieder. Und in „Trabocco le Morge“ war ich schon beim Essen.
Freue mich jedes Mal über Eure „Good news“!
Hallo liebe Sieglinde,
herzlichen Dank für deine Nachricht.
Ja, Herbert macht ganz wunderbare Reisen!
Vielleicht bringen wir die drei ja einmal zusammen. Wer weiß, was sich dann noch alles so entwickelt.
Einen lieben Gruß!
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